30 Jahre danach kommt kaum eine Beschreibung der tagelangen Gewaltexzesse vom August 1992 in Rostock-Lichtenhagen ohne die Erwähnung des Sonnenblumenmosaiks aus. Die Harmlosigkeit der riesigen Wandverzierung unweit des idyllischen Ostseebades Warnemünde steht im Widerspruch zum Zivilisationsbruch, der sich, so glaubte man damals, als singuläres Ereignis vollzog. Wie oft noch muss die Aufzählung deutscher Städtenamen für den Versuch herhalten, rassistisch motivierte Anschläge wenigstens nachträglich zu bannen? Mölln, Hoyerswerda, Halle, Hanau – die Reihe ist unvollständig, und die mit den Ortsnamen emblematisch verbundenen Ereignisse liegen zeitlich weit auseinander. Auf einer Deutschlandkarte eingetragen aber markieren sie eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die Normalität zu nennen, man sich trotz aller inneren Widerstände kaum zu erwehren vermag.
Die hygienischen Zustände waren verheerend
So stereotyp und redundant es inzwischen erscheinen mag, kommt man nicht umhin, die Ereignisse von Rostock noch einmal in Erinnerung zu rufen. Es war ein Konflikt mit Ansage, und an Warnungen hat es nicht gemangelt. Über Wochen hatte sich die Lage vor der Rostocker Anlaufstelle für Asylbewerber zugespitzt. Es fehlte an Unterbringungsmöglichkeiten für die Wartenden sowie an behördlichem Personal, das in der Lage war, die Anträge zügig zu bearbeiten. Die Folge: Draußen auf der Wiese, mitten im Wohngebiet, campierten Hunderte Menschen bis zu einer Woche, vor allem rumänische Roma, die in Deutschland Asyl suchten. Die hygienischen Zustände waren verheerend, und der Unmut der Anwohner wuchs angesichts der Hilflosigkeit der lokalen und landespolitischen Instanzen. Die Szenerie mündete schließlich in einem Pogrom, das Haus mit den Sonnenblumen wurde angezündet.
Es wirkte wie ein Fanal. Das wiedervereinigte Deutschland hatte sich als unfähig erwiesen, den Herausforderungen seiner neuen Rolle in der Welt gerecht zu werden. Man verfügte weder über eine angemessene Selbstbeschreibung, noch besaß man eine Vorstellung von den gesellschaftlichen Konflikten, die insbesondere in jungen Menschen brodelten, die gerade einen Systemwechsel hinter sich hatten. Also dauerte es noch einmal fast 20 Jahre, ehe die Mordtaten einer terroristischen Gruppe, die sich den Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gegeben hatte, im November 2011 entdeckt wurden. In der öffentlichen Wahrnehmung aber galt auch dies wieder als Beginn eines großen Erschreckens, das wenig später noch dadurch vergrößert wurde, weil die juristische Aufarbeitung der NSU-Verbrechen mehr Fragen offenließ als beantwortete.
Letzteres gilt leider auch für die Vorgänge in Rostock, wie Wolfgang Richter, der 1992 Ausländerbeauftragter in Rostock war, nicht müde wird, zu betonen. Die Aufarbeitung sei grandios gescheitert, sagte er unlängst in einem Radio-Interview. Beinahe heldenhaft hatte Richter seinerzeit versucht, auf die verzweifelte Lage vor Ort aufmerksam zu machen. Die Bilder des Schreckens, so sagt er, lassen ihn nicht los. Tatsächlich aber habe es keine Übernahme von politischer Verantwortung gegeben und eine juristische Verurteilung sei nur zögerlich erfolgt. Zu jedem runden Gedenktag der Geschehnisse von Rostock-Lichtenhagen wird Wolfgang Richter als Kronzeuge einer aufrechten Zivilgesellschaft befragt, die vom wütenden Mob kurzerhand überrannt wurde.
Der Vorrang der Opferperspektive
Immerhin, so heißt es beschwichtigend, sei die öffentliche Aufmerksamkeit inzwischen viel stärker auf die Opfer rassistischer Gewalt gerichtet. Nach dem Rostocker Pogrom hatte es nicht an Erklärungsversuchen gemangelt, in denen sogar Verständnis für die Gewaltausbrüche aufgebracht wurde. Es ist allerdings eine arg verstörende Bilanz, nach 30 Jahren auf der gesellschaftlichen Habenseite wenig mehr als die Abkehr von der Fixierung auf die Täter verbuchen zu können. Der schwierige Lernprozess gegenüber einer von Ressentiments getriebenen Gewalt rührt nicht zuletzt aus dem Misslingen, die Brutalität des jeweils einzelnen Falls als Bestandteil der sozialen Realität zu erkennen und zu bearbeiten. Und so gehört es zum gesellschaftspolitischen Dilemma von Gedenktagen, dass die Notwenigkeit des Erinnerns die stigmatisierten Orte wieder aufruft, ohne den Menschen Hilfestellungen für ein Leben in der Zwischenzeit zu geben.


