Ukrainekrieg

Stoltenberg: Die Ukraine könnte Gebietsverluste an Russland hinnehmen müssen

In einem Interview kurz nach dem Ende seiner Amtszeit als Nato-Chef spricht Jens Stoltenberg darüber, wie der Ukrainekrieg seiner Meinung nach enden könnte.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) und der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) und der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.Kin Cheung/AFP

Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat in einem am Freitag veröffentlichten Interview mit der Financial Times ausführlich und offen über den Ukrainekrieg gesprochen. Wenige Tage nach dem Führungswechsel an der Spitze des Militärbündnisses gibt Stoltenberg Einblick in die Herausforderungen und Entscheidungen, die er im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg treffen musste – und räumt Fehler ein. „Wir hätten ihnen vor der Invasion mehr Waffen geben sollen“, sagt Stoltenberg beispielsweise. „Und wir hätten ihnen nach der Invasion modernere Waffen schneller geben sollen. Ich übernehme meinen Teil der Verantwortung.“

Auf die Frage, wie der Krieg seiner Meinung nach enden wird und was er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj raten würde, antwortet Stoltenberg mit einem historischen Vergleich: „Finnland hat 1939 einen mutigen Krieg gegen die Sowjetunion geführt. Sie haben der Roten Armee viel größere Kosten aufgebürdet als erwartet. Der Krieg endete damit, dass sie 10 Prozent des Territoriums aufgaben. Aber sie bekamen eine sichere Grenze“, so Stoltenberg. Schlägt der norwegische Politiker vor, dass die Ukraine im Gegenzug für sichere Grenzen auf Gebiete verzichtet?

Eine sichere Grenze, „die nicht unbedingt die international anerkannte Grenze ist“

Schließlich war Finnland bis zu seinem Nato-Beitritt im vergangenen Jahr neutral, während die Ukraine dem Bündnis schnell beitreten möchte, was Russland vehement ablehnt. Stoltenberg wird daran erinnert, dass die USA und Deutschland ebenfalls gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sind, mit dem Argument, dass Artikel 5 einen Krieg mit Russland bedeuten würde. „Es gibt Möglichkeiten, das zu lösen“, antwortet er und erklärt, dass „es eine Grenze gibt, die nicht unbedingt die international anerkannte Grenze ist“.

Er weist darauf hin, dass die Sicherheitsgarantien der USA für Japan nicht Tokios Anspruch auf die Kurilen-Inseln abdecken und dass Westdeutschland in die Nato aufgenommen wurde, obwohl die Allianz damals nur den Westen und nicht Ostdeutschland schützte. „Wenn es einen Willen gibt, gibt es auch Wege, eine Lösung zu finden“, sagt er weiter. „Aber es muss eine Linie gezogen werden, die festlegt, wo Artikel 5 geltend gemacht wird, und die Ukraine muss das gesamte Gebiet bis zu dieser Grenze kontrollieren.“

26.09.2024: US-Präsident Joe Biden (r) trifft sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office des Weißen Hauses.
26.09.2024: US-Präsident Joe Biden (r) trifft sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office des Weißen Hauses.Susan Walsh/AP

Zudem deutet Stoltenberg an, dass nach den US-Präsidentschaftswahlen im November „eine Art neuer Schwung“ entstehen könnte, der möglicherweise „Wege aufzeigt, um Bewegung auf dem Schlachtfeld und gleichzeitig Bewegung am Verhandlungstisch zu erreichen“.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat immer wieder den Abzug ukrainischer Truppen aus vier Regionen sowie den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft zur Bedingung für Friedensverhandlungen gemacht. Putin forderte, dass die Ukraine diese Gebiete, die das russische Militär teilweise besetzt hält, komplett an Russland übergeben müsse. Moskau hatte die Regionen im Osten und Süden der Ukraine im September 2022 für annektiert erklärt. Für Kiew stellen diese Bedingungen de facto die Forderung nach einer Kapitulation dar.