Das ukrainische Militär hat Russland beschuldigt, bei einem Angriff auf die Stadt Dnipro am Donnerstagmorgen eine Interkontinentalrakete (ICBM) abgefeuert zu haben. „Eine ballistische Interkontinentalrakete wurde von der Region Astrachan der Russischen Föderation aus abgeschossen“, teilte die ukrainische Luftwaffe in einer Erklärung auf Facebook mit. Es handele sich nach übereinstimmenden Medienberichten um den ersten Einsatz einer derartigen Waffe seit Beginn des Krieges im Februar 2022.
Die Ukraine legte bisher keine Beweise dafür vor, dass bei dem Angriff auf die zentralrussische Stadt Dnipro eine offenbar mit konventionellen Sprengköpfen ausgestattete Interkontinentalrakete eingesetzt wurde. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, die eingesetzte Rakete entspreche „der Geschwindigkeit und Flughöhe“ einer Interkontinentalrakete. Der Kreml wollte den Angriff nicht kommentieren.
Russland und USA widersprechen der Ukraine
Putin äußerte sich am Abend in einer Fernsehansprache zum mutmaßlichen Abschuss einer Interkontinentalrakete. Seinen Aussagen zufolge habe die russische Armee die Mittelstreckenrakete Oreschnik eingesetzt. Ihm zufolge handelte es sich dabei um einen Teststart dieser „neuesten Rakete“.
Kurz zuvor hatte die US-Regierung mitgeteilt, dass bei dem Angriff am Donnerstagmorgen auf die Ukraine eine „experimentelle ballistische Rakete mittlerer Reichweite“ eingesetzt wurde. Die USA bestätigten damit, dass es sich demnach um keine Interkontinentalrakete handelte. Der Regierungsvertreter fügte hinzu: Das sei in diesem Konflikt kein „game changer“, also nichts, was die Situation grundlegend verändere. „Russland versucht möglicherweise, diese Fähigkeit zu nutzen, um die Ukraine und ihre Unterstützer einzuschüchtern … aber es wird in diesem Konflikt keine Wende bringen“, so der US-Beamte. „Die Ukraine hat unzähligen Angriffen Russlands standgehalten, darunter auch Raketen mit deutlich größeren Sprengköpfen als diese Waffe“, sagte der Regierungsvertreter.
Es habe sich lediglich um einen Einschüchterungsversuch gehandelt. Russland verfüge „wahrscheinlich nur über eine Handvoll“ dieser Raketen, sagte ein US-Beamter der Deutschen Presse-Agentur in Washington. Der Kreml versuche mit dem Einsatz dieser Rakete nur Aufmerksamkeit zu erregen, in diesem Konflikt werde sie aber keine entscheidende Rolle spielen, hieß es weiter. Die USA hätten die Ukraine und enge Verbündete in den vergangenen Tagen über einen möglichen Einsatz der neuen Waffe informiert.
Russland meldet Abschuss von britischen Storm-Shadow-Raketen
Russland meldete derweil hingegen den Abschuss von zwei britischen Storm-Shadow-Raketen. „Die Luftabwehr schoss zwei im Vereinigten Königreich hergestellte Storm-Shadow-Marschflugkörper, sechs in den Vereinigten Staaten hergestellte HIMARS-Raketen und 67 unbemannte Luftfahrzeuge des Typs Flugzeug ab“, hieß es in einer Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums im Messengerdienst Telegram am Donnerstag.
Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, dass bei dem Angriff auf Dnipro sieben Marschflugkörper abgeschossen worden seien. Nach Angaben von Militärgouverneur Serhij Lyssak wurde ein Industriebetrieb in der Gebietshauptstadt Dnipro getroffen, zwei Feuer seien in der Stadt ausgebrochen.
Der Bürgermeister von Dnipro, Borys Filatow, schrieb, dass auch ein Zentrum für Menschen mit Behinderungen beschädigt worden sei. Bisher lägen keine Informationen über Tote vor, zwei Menschen wurden jedoch nach ukrainischen Angaben bei den russischen Angriffen auf die Region verletzt.
Ukraine griff Russland erstmals mit Langstreckenraketen an
Eine ballistische Interkontinentalrakete (ICBM) ist eine Langstreckenwaffe, die in den Weltraum geschossen wird und dann einen oder mehrere Sprengköpfe freisetzt, die wieder in die Atmosphäre eintreten und auf ihre Ziele fallen. Laut dem US-amerikanischen Sender CNN haben ICBMs eine Mindestreichweite von 5500 Kilometern, einige Modelle können jedoch auch weiter als 9000 Kilometer fliegen. Sie können sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Welche Interkontinentalrakete bei dem Angriff am Donnerstag mutmaßlich eingesetzt wurde, war zunächst nicht bekannt. Aus Kiew hieß es jedoch am Donnerstagvormittag, die Rakete sei nicht mit einem Atomsprengkopf versehen gewesen.
Nach der Entscheidung Washingtons, der Ukraine den Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet zu erlauben, hatte die ukrainische Armee russisches Territorium in den vergangenen Tagen mit amerikanischen ATACMS-Raketen angegriffen und offenbar auch britische Storm-Shadow-Raketen auf Russland abgefeuert. Großbritannien hat sich bislang nicht dazu geäußert.


