Eine unglückliche Kindheit sei ein Schatz für einen Schriftsteller, sagte Hilary Mantel in einem Fernseh-Interview, das im Juni dieses Jahres mit ihr geführt wurde. „Ich meine das nicht zynisch, aber glückliche Kindheiten bringen nicht viele gute Geschichten hervor.“ Als Autor könne man aus dem Schlimmsten noch das Beste machen. Ihre Entscheidung, nach dem Studium der Rechtswissenschaften und einer Zeit als Sozialarbeiterin ein Leben als Schriftstellerin zu führen, ließ sie mit persönlichen Traumata fertigwerden und bereicherte die Literatur auf entscheidende Weise: Hilary Mantel hat das Genre des historischen Romans neu erfunden, das lange das Image des „Schmökers“ oder der „Schwarte“ hatte.
Mit ihrer Trilogie um den 1540 hingerichteten englischen Lordkanzler Thomas Cromwell erwarb sie sich die Anerkennung der Geschichtswissenschaftler, überzeugte die Literaturkritik und begeisterte eine breite Leserschaft. Wie ihr britischer Verlag HarperCollins am Freitag mitteilte, starb Hilary Mantel am Donnerstag „plötzlich, aber friedlich“ im Kreise ihrer Familie. Sie wurde 70 Jahre alt.
Siebzig Jahre sind nach heutigen Maßstäben kein hohes Alter. Hilary Mantel hat jedoch nicht nur in der Kindheit unter den Launen einer Mutter, die mit zwei Männern lebte, gelitten, sondern auch Jahrzehnte körperlichen Leidens hinter sich gebracht. Bereits als Jugendliche wurde sie von einer chronischen Erkrankung heimgesucht, die Wucherungen und Entzündungen im gesamten Bauchraum bedeuten kann: Endometriose. Auch unter Migräne litt sie.
Sie habe mehr Gynäkologen gehabt als Liebhaber, sagt sie in ihrem Erinnerungsbuch „Von Geist und Geistern“. Und sie klärt auf: „Ich schreibe nicht, weil ich um Mitleid heischen will. Menschen durchleben weit Schlimmeres, ohne je davon etwas zu Papier zu bringen. Ich schreibe diese Sätze, um die Geschichte meiner Kindheit und meiner Kinderlosigkeit in den Griff zu bekommen; um mich zu lokalisieren, wenn nicht in meinem Körper, dann im schmalen Zwischenraum zwischen einem Buchstaben und dem nächsten, zwischen den Zeilen, wo die Geister der Bedeutung leben.“
Hilary Mantels Hauptwerk erschien in 41 Sprachen
„Von Geist und Geistern“ ist 2015 auf Deutsch erschienen, zwölf Jahre nach dem Original, so wie auch viele andere ihrer Bücher erst nach dem großen Erfolg der historischen Romane zu den deutschen Lesern fanden. „Jeder Tag ist Muttertag“, ihr erster Roman, 1985 publiziert, kam 2016 auf Deutsch heraus, „Der Hilfsprediger“ im Jahr darauf, 1989 im Original. Diese Bücher sind im britischen Alltag angesiedelt, in einem oft humorvollen, zuweilen bissigen Ton geschrieben, in denen die stilistische Brillanz der Autorin schon zu erkennen war.
Ihr Hauptwerk aber sind die Romane, die unter den deutschen Titeln „Wölfe“, „Falken“ und „Spiegel und Licht“ von 2010 bis 2020 erschienen. Übersetzt in 41 Sprachen, wurden sie weltweit mehr als fünf Millionen Mal verkauft. Die ersten beiden Teile erhielten 2009 und 2012 die höchste britische Literaturauszeichnung, den Booker-Preis; eine zweifache Auszeichnung ist außer Mantel nur fünf anderen Kollegen gelungen.
Mit der Tudor-Trilogie ließ die Autorin England in einer Zeit des Umbruchs lebendig werden: schmutzig, farbig, sinnlich und mit einer extrem spannenden Geschichte. „Und jetzt steh auf“, lautet der erste Satz, gesprochen vom Vater Thomas Cromwells, da ist der Junge fast tot, „sein Kopf neigt sich zur Seite, sein Haar liegt in seinem eigenen Erbrochenen, der Hund bellt“.
Dieser Sohn eines Schmieds, in Armut und Gewalt aufgewachsen, wird auf dem europäischen Kontinent zum versierten Tuchhändler und Juristen, erlebt in England einen grandiosen Aufstieg. Er gewinnt das Vertrauen des Königs Henry VIII., wird zu seinem wichtigsten Berater, verändert die Wirtschaft und politische Struktur auf der Insel, betreibt die Ablösung Englands von der katholischen Kirche und endet unter schmählichen Vorwürfen. Hilary Mantel schildert die Abenteuer, die Intrigen und Spannungen drumherum. Sie schreibt im Präsens; was passiert, ist einem nahe.
Hilary Mantel ist in die Vergangenheit gestiegen und hat die Motive ihrer Figuren ergründet, ihre inneren Begrenzungen und die Fallen, die ihnen gestellt wurden. Sie schreibt: „Das Wort ,dennoch‘ ist wie ein Kobold, der sich unter deinem Stuhl eingerollt hat. Es bringt die Tinte dazu, Worte zu formen, Zeilen, die du noch nicht gesehen hast, die Seite zu überqueren und über den Rand hinauszuschießen.“ Das klingt wie ein Credo ihrer Arbeit: wachsam für Widersprüche sein.
Die unterschiedlichen Interessen von Personen mit Macht und Einfluss, die Differenz zwischen Anspruch und Realität und die Kluft zwischen Wahrheit und Lüge sind – hinter den akribisch recherchierten Details – Gegenstand ihrer historischen Romane. Die Sätze über das „dennoch“ stehen kurz vor Schluss des zweiten Bandes, es folgen noch diese: „Es gibt keine Enden. Wenn du es denkst, täuschst du dich. Es sind alles Anfänge. Hier ist einer.“ Anne Boleyn, die Frau des Königs Henry VIII., wurde am 15. Mai 1536 enthauptet. Thomas Cromwell ist zum Baron ernannt worden. Und der dritte Band gilt seinem Abstieg.
Hilary Mantel wollte England verlassen
Als Hilary Mantel für „Wölfe“ den Booker-Preis erhielt, sagte sie, vor Glück fliege sie durch die Luft und werde das Preisgeld für „Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll“ verwenden: So unterhielt die Schriftstellerin, die zuvor lange auf Anerkennung gewartet hatte, das noble Auditorium. Mantel hatte Spaß an der Verblüffung, als „spitzbübisch“ wird sie in manchen Porträts beschrieben. Das Preisgeld nutzte sie, um weiterzuarbeiten. Und dass sie auch jetzt wieder einen historischen Stoff im Auge hatte, erzählte sie dann noch in jenem Interview vom Juni. Aber sie ließ die Romane immer eine Weile reifen, bis sie sich hinsetzte. In „Von Geist und Geistern“ heißt es auch: „Eine Idee für eine Geschichte zu haben heißt noch längst nicht, dass Sie bereit sind, sie zu schreiben.“



