Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny hat laut Auszügen aus seinen posthum zusammengestellten Memoiren mit seinem Tod in Haft gerechnet. „Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und hier sterben“, schrieb Nawalny während seiner Haft im März 2022 in sein Tagebuch. Der New Yorker und die Times veröffentlichten Auszüge aus dem Buch, einer posthum zusammengestellten Aufzeichnung von Nawalnys letzten Jahren, einschließlich derer, die er im Gefängnis verbrachte. Am 16. Februar starb Nawalny unter ungeklärten Umständen in einem sibirischen Straflager. Er wurde 47 Jahre alt.
Nalwalny war über Jahre der prominenteste Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Immer wieder wurde er inhaftiert und mit Prozessen überzogen. 2020 überstand Nawalny eine Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok. Nach einer Behandlung in der Berliner Charité kehrte er 2021 zurück nach Russland und kam wieder ins Gefängnis. Während er sich in der Berliner Charité einer fachärztlichen Behandlung unterzog, begann er mit dem Schreiben seiner Memoiren, die er mit „Patriot“ betitelte. Nach seiner Genesung kehrte er im Januar 2021 nach Moskau zurück, wo er sofort in Haft genommen wurde.
Alexej Nawalny musste stundenlang unter Porträt von Wladimir Putin sitzen
Nawalny verbrachte die restlichen 37 Monate seines Lebens im Gefängnis und führte in dieser Zeit die in seinen Memoiren gesammelten Tagebucheinträge fort. Am 17. Januar 2022 schrieb er den Berichten zufolge: „Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist, dass wir unsere Heimat aufgeben, um von einer Bande von Lügnern, Dieben und Heuchlern geplündert zu werden.“ Die Auszüge zeichnen das Schwinden von Nawalnys Gesundheit nach und fangen die Isolation seiner Gefangenschaft mit einem Hauch seines charakteristischen Humors ein.
In einem Eintrag vom 1. Juli 2022 fasst Nawalny einen typischen Tagesablauf zusammen: Aufwachen um 6 Uhr, Frühstück um 6.20 Uhr und Arbeitsbeginn um 6.40 Uhr. „Bei der Arbeit sitzt man sieben Stunden lang an der Nähmaschine auf einem Hocker unterhalb der Kniehöhe.“ „Nach der Arbeit sitzt man noch ein paar Stunden auf einer Holzbank unter einem Porträt von Putin. Das nennt man ‚disziplinarische Tätigkeit‘.“
Unterstützung von J. K. Rowling gab Nawalny Kraft
Die Tür zur Gefängnisküche, in der Hühnchen gekocht und Brot gebacken wurden, werde „absichtlich offen gelassen“, damit der Geruch zu ihm gelange, schrieb Nawalny. Am 11. April 2021 beschrieb er seinen Gemütszustand als desolat. Er sei „zum ersten Mal emotional und moralisch am Boden“, hieß es in einem Eintrag. Doch bereits wenige Tage später schöpfte Nawalny neue Kraft – dank der internationalen Unterstützung, „darunter fünf Nobelpreisträger“ und sogar Autorin „J. K. Rowling“.
Auch Nawalnys ungebrochener Humor schimmert trotz der Einsamkeit und der Isolation immer wieder zwischen den Zeilen hindurch. Hinsichtlich der Motivation für seine Tagebuchnotizen erklärt Nawalny etwa: „Wenn sie mich umbringen, erhält meine Familie den Vorschuss und die Autorenrechte, die es hoffentlich geben wird.“
Mit Blick auf den 2020 auf ihn verübten Giftanschlag fügte Nawalny hinzu: „Seien wir ehrlich: Wenn ein undurchsichtiger Mordversuch mit einer chemischen Waffe, gefolgt von einem tragischen Tod im Gefängnis den Buchverkauf nicht ankurbeln kann – was dann? Der Autor des Buches wurde von einem berüchtigten Präsidenten ermordet. Was könnte der Marketingabteilung Besseres passieren?“
Warum kehrte Nawalny freiwillig nach Russland zurück?
Im letzten im New Yorker veröffentlichten Auszug, der auf den 17. Januar 2024 datiert ist, schreibt Nawalny, dass andere Gefangene und Gefängniswärter ihn oft fragten, warum er sich entschieden habe, nach Russland zurückzukehren. Die Antwort, schreibt Nawalny, sei einfach: „Ich will mein Land nicht aufgeben oder es verraten. Wenn einem seine Überzeugungen etwas bedeuten, muss man bereit sein, dafür einzustehen und notfalls auch Opfer zu bringen“.
Das Buch „Patriot“ wird am 22. Oktober veröffentlicht. Der amerikanische Verlag Knopf plant auch eine russische Version. Laut dem Chefredakteur des New Yorker sind Nawalnys Tagebuchnotizen auch Ausdruck seiner inneren Stärke. Es sei „unmöglich“, sie zu lesen, „ohne über die Tragik seines Leidens und seines Todes empört zu sein“, so David Remnick.


