Sterbehilfe

Vom Kampf, endlich sterben zu dürfen

Maria Kunert war unheilbar krank und suchte sehr lange nach einem Arzt, der ihr hilft, den Tod zu finden. Ihr Sohn erzählt von ihrem Weg.

Vier Monate vor ihrem Tod: Maria in ihrer Wohnung.
Vier Monate vor ihrem Tod: Maria in ihrer Wohnung.Benjamin Pritzkuleit

Berlin-Maria Kunert ist weg. Nichts erinnert mehr an sie in dem Haus, in dem sie so lange gewohnt hat. Am Klingelschild ein neuer Name, ebenso an ihrer Wohnungstür. Der Balkon ist verwaist. Nur ein Tisch steht zusammengeklappt an der Wand. Als der Balkon noch Maria gehörte, war es ein bunter Ort mit Regalen, Mobiliar, vielen Tonfiguren und Pflanzen, die sie so liebte. Sie sagte oft: „Nun, da es zu Ende geht, will ich mich nur noch mit schönen Dingen umgeben.“

Sie hatte keinen perfekten grünen Daumen, und so ging ihr im Herbst manche Pflanze ein. Aber im Frühjahr pflanzte sie neue. Das war ihre Art, sich unermüdlich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Und zum Leben gehören Anfang und Ende.

Es war ihr sehnlichster Wunsch

Maria Kunert ist tot. Sie starb im März 2021 im Alter von 64 Jahren. Sie wollte es so. Es war ihr sehnlichster Wunsch: Sie wollte selbstbestimmt aus dem Leben treten. Bevor diese unheilbare Krankheit ihr jede Kraft aus dem Körper gesaugt hat. Bevor sie nur noch apathisch hätte warten können, dass der Tod sie erlöst. Maria Kunert wollte Sterbehilfe, und es war ein sehr langer Weg, bis sie diese Hilfe bekam.

Wenn ihr Sohn ins Büro muss, geht der Ingenieur am Haus seiner Mutter vorbei. Es ist ein Ort, an dem er vor ein paar Jahren nicht allzu oft war, weil er sich mehr um seine eigene Familie kümmerte, seine Frau, die beiden Kinder. Nun steht der 40-Jährige vor der Wohnungstür, hinter der seine Mutter gelebt hat, und sagt: „In den letzten Monaten ihres Lebens stand ich jeden Tag vor dieser Tür. Und jedes Mal wusste ich nicht, was mich dahinter erwartet.“

Manchmal war er sogar mehrmals täglich hier. Seine Mutter war oft zu schwach, um die paar Schritte vom Bett in die Küche zu schaffen. Sie stürzte fast täglich und konnte dann nur noch den Knopf des Hausnotrufs drücken. Immer wieder riefen Notärzte bei ihm an. „Mal sagten sie, ich könne mir mit dem Vorbeikommen bis nach der Arbeit Zeit lassen“, erzählt er. „Mal sagten sie, ich solle mich beeilen, wenn ich das Blut meiner Mutter noch aus ihrem hellen Teppich rausbekommen will.“

Die Diagnose war brutal: Multisystematrophie, in etwa beschreibbar als besonders dramatische Form von Parkinson, wobei der Verlauf eben nicht mit Medikamenten aufgehalten werden kann. „Ab Diagnose hatte sie noch eine Lebenserwartung von zwei Jahren, maximal fünf“, sagt der Sohn. Maria Kunert konnte ihre Muskeln immer weniger steuern, konnte oft nur winzige Trippelschritte machen, konnte ihre Finger nicht bewegen, ihren Kiefer. Ihr Geist war willensstark, aber ihr Körper verweigerte den Dienst. Es gab Tage, an denen war sie zu schwach, um zu sprechen – zu schwach, um auch nur zu lächeln. „Bei der Krankheit gibt es nur eine Perspektive“, sagt ihr Sohn. „Sie endet in absoluter Hilflosigkeit.“

Nach langen vergeblichen Therapien suchte Maria einen Arzt, der ihr ein Medikament verschreibt – ein erlösendes Gift, mit dem sie sich selbst töten würde. Sie sagte damals: „Niemand hat etwas davon, dass ich immer weiter und immer mehr leide. Es gibt doch keine Pflicht zu leben.“ Allerdings wollte sie nicht ins Ausland fahren, um Sterbehilfe zu bekommen. „Denn ich will nichts Verbotenes.“

Verfassungsgericht spricht klares Urteil

Noch immer ist Sterbehilfe umstritten. Die Rechtslage ist allerdings eindeutig: Zwar hatte der Bundestag 2015 das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ beschlossen, doch am 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht genau dieses Verbot der Sterbehilfe als verfassungswidrig. In dem richtungsweisenden Urteil wird das Recht auf selbstbestimmtes Sterben festgeschrieben – auch ohne schwere Krankheit. Und es darf die freiwillige Hilfe von anderen in Anspruch genommen werden. Seither ist der Bundestag aufgefordert, die Sterbehilfe per Gesetz neu zu regeln. Das ist bislang nicht erfolgt. An diesem Montag wollen die drei großen Sterbehilfeorganisationen ihre Forderungen an die Politik erläutern.

Richtungsweisendes Urteil: Am 26. Februar 2020 erklärt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das Verbot der Sterbehilfe als verfassungswidrig.
Richtungsweisendes Urteil: Am 26. Februar 2020 erklärt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das Verbot der Sterbehilfe als verfassungswidrig.dpa/Uli Deck

Seit dem Urteil haben die Organisationen Hunderten Sterbewilligen geholfen. Auch Maria Kunert fand irgendwann Hilfe, und ihr Sohn ist nun bereit, zu erzählen, wie er die Zeit erlebt hat. Er sagt, dass seine Mutter ihren Angehörigen das ganze Ausmaß der Krankheit anfangs gar nicht erzählt habe. „Auch, weil es Ärzte gab, die sie behandelten, als gäbe es noch Hoffnung. Sie kamen mit immer neuen Therapien, taten so, als könnten sie helfen. Aber als das nicht funktionierte, wendeten sie sich ab.“ Seine Mutter fühlte sich im Stich gelassen, nicht gesehen von den Ärzten. „Sie war sehr wütend.“

Der Sohn tritt vor ihr Haus. Die Sonne strahlt an diesem Tag, und er sagt, dass das Haus jahrelang saniert wurde und sie dort ausharrte trotz Dreck und Lärm. Als alles endlich fertig war, wurde es richtig hart mit der Krankheit.

Ihr Sohn geht über den weiten Platz zur S-Bahn. Er will zu ihrem Grab auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Unterwegs erzählt er vom ewigen Kampf mit den Behörden und den verschiedenen Kassen. „Immer wieder wurde sie nur krankgeschrieben, so als würde sie wieder fit werden für den Arbeitsmarkt. Dabei war sie längst todgeweiht. Dieser ewige Behördenkrieg war einfach inhuman.“

„Sie hatte ein so wunderbar enges soziales Netz“

Maria Kunert war eine intelligente und lebensfrohe Frau. Keinesfalls einsam. Keine Kranke, die mit der Sterbehilfe einem traurigen Leben entfliehen wollte. Die frühere Lektorin lebte nicht nur gern in der Gemeinschaft ihrer Bücher, sondern auch mit Freunden. „Sie hatte ein so wunderbar enges soziales Netz“, sagt ihr Sohn. Nicht nur er half ihr. Auch ihre Schwester und mindestens ein halbes Dutzend Freunde, dazu noch Nachbarn, die ständig vorbeikamen. „Es sind so viele Namen“, sagt ihr Sohn. „Ich weiß gar nicht, wem ich alles dankbar sein soll.“

Sie hat bis zum Schluss viel Wert auf gutes Essen gelegt. Überall in der Wohnung standen ständig kleine Schüsseln mit edlen Süßigkeiten, die ihr mitgebracht worden waren. Der Sohn erzählt, dass ein Abendbrot mit ihr zwei Stunden dauern konnte. Sie wollte die Tasse Tee selbst an die Lippen führen. Das dauerte und dauerte. „Ich habe es gestoppt, damit die anderen verstehen, dass wir nicht übertreiben: 4 Minuten und 20 Sekunden vom Tisch bis zum Mund, und dabei hat sie den Kopf extra tief gesenkt, um den Weg zu verkürzen.“ Und als die Tasse endlich an den Lippen war, fehlte ihr die Kraft, um die Tasse anzukippen und zu trinken. „Wie soll ich da ihren Wunsch, sterben zu wollen, nicht akzeptieren? Menschen brauchen Hoffnungen, und wenn es ihre Hoffnung ist, dass sie einen Notausgang aus ihrem Leid finden können, dann ist es eben so.“

Damals, als wir Maria Kunert ein paar Wochen vor ihrem Tod trafen, wurde eines deutlich: Die letzten Reste ihrer Kraft wurden vor allem aus einem unbedingten Willen gespeist. Sie wollte doch noch einen Arzt finden, der ihren letzten Willen erfüllt.

Die Gegner der Sterbehilfe fürchten einen Dammbruch, sie glauben, dass sich Menschen viel zu früh töten, viel zu leichtfertig. Doch wer erlebt hat, wie sich jemand jahrelang durch eine unheilbare Erkrankung kämpft – gegen jede medizinische Prognose und gegen jede Vernunft –, begreift: Die Allermeisten wollen auch in ausweglosen Situationen noch leben. Und wer suizidgefährdet ist, findet im Ernstfall schnell eine Methode. Die Sterbehilfe hingegen ist ein komplizierter, bürokratischer Weg. So sieht es auch der Sohn von Maria Kunert. „Meine Mutter hätte wirklich sehr gern weitergelebt, aber das Leben sah die Sache etwas anders.“

Der Film zur Debatte: In „Gott“ von Ferdinand von Schirach erklärt die Verfassungsrechtlerin Prof. Litten (Christiane Paul) die komplexe Rechtslage bei der Sterbehilfe. Zu dem Film gibt es umfangreiches Material in der ARD-Mediathek.
Der Film zur Debatte: In „Gott“ von Ferdinand von Schirach erklärt die Verfassungsrechtlerin Prof. Litten (Christiane Paul) die komplexe Rechtslage bei der Sterbehilfe. Zu dem Film gibt es umfangreiches Material in der ARD-Mediathek.ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung

Am Friedhof weht kein Lüftchen. Der Himmel ist so makellos, dass die Sonne blendet. Es ist richtiggehend warm an diesem klaren Wintertag, die Krokusse blühen lila auf der Wiese neben dem Grab von Maria Kunert.

Ihr Sohn erzählt von ihren letzten Wochen. „Sie wurde von Tag zu Tag gebeugter, krummer, kleiner.“ Irgendwann war sie so hilflos, dass sie doch einwilligte und sich in ein Hospiz bringen ließ. Auch dort hätte es noch Wochen oder Monate bis zu ihrem Tod gedauert. „Wie soll ein Mensch, der solche Schmerzen erleidet, denn weiterleben, wenn er nicht die Hoffnung hat, dieses Leid zu mildern oder es zu beenden?“, fragt ihr Sohn.

Dann kam der Termin für die Sterbehilfe. „Die Erleichterung bei ihr war kaum vorstellbar“, sagt er. „Dieses tonnenschwere Gewicht, das von ihren schwachen Schultern abfiel.“ Der Termin habe ihr die Kraft gegeben, ihr Leid noch weiter auszuhalten. Er selbst konnte in jener Nacht nicht schlafen und lag lange wach. Dann schrieb er ein Gedicht, das er später bei ihrer Beerdigung vorlas.

Dann funkte Corona dazwischen

Dort vorn ist ihr Grab, in dem weiten Kreis um einen Baum. In einem der sechs Teile des Kreises steht ein rötlicher Findling, darauf ihr Name, ihr Geburtsjahr, ihr Sterbejahr. Sie liegt unter einem Amberbaum. Amber ist flüssiger Bernstein – der Baum heißt so wegen der tollen Herbstfärbung, die Maria Kunert sehr mochte.

Ihr Sohn holt zwei Stangen Lakritze aus der Tasche. „Lakritze und meine Mama gehören zusammen“, sagt er. Kurz vor dem Mauerfall durfte sie als Lektorin zum ersten Mal in den Westen und brachte ihm Lakritze mit. Später schenkte sie diese Süßigkeiten immer auch ihren Enkeln. Ihr Sohn erzählt, dass es die Stangen nicht mehr überall gibt. Er hatte Glück im Späti. Vorhin hat er gesehen, dass sie nur bis Mai 2017 haltbar waren. „Aber das sagen wir ihr nicht“, sagt er und schaut auf ihr Grab. „Es ist ja ein symbolischer Akt, genauso, wie ein Begräbnis ein symbolischer Akt ist.“

Er erzählt von den Gesprächen mit dem Anwalt der Gesellschaft für Humanes Sterben und deren Arzt. Die beiden haben minutiös erklärt, was rechtlich erlaubt ist, was medizinisch möglich ist und was Maria Kunert an dem Tropf neben ihrem Bett machen muss, damit das tödliche Medikament fließt. „Das lief alles äußerst korrekt ab.“

Er erzählt, dass es noch ein wichtiges Ziel gab: Das Hospiz sollte auf keinen Fall Ärger wegen der Sterbehilfe bekommen. Deshalb wollten sie Maria Kunert am Tag vor dem Termin in ihre Wohnung bringen. Doch dann funkte das Coronavirus dazwischen. Maria war geimpft, hatte aber ein paar Tage vor dem Termin einen positiven Test. Sie musste in Quarantäne, durfte das Heim nicht verlassen. Sie war symptomfrei und verzweifelt, weil sie sich sicher war, dass der ersehnte Termin abgesagt wird. „Aber wir haben sie da rausgeholt. Ich hatte es ihr doch versprochen. Und wenn sich uns jemand in den Weg gestellt hätte, hätte ich mir wohl richtig Ärger eingehandelt. Aber meine Mama hätte nicht auf einen zweiten Termin warten können.“

Geschenk für Maria Kunert: Ihr Sohn legt Lakritzstangen auf ihren Grabstein.
Geschenk für Maria Kunert: Ihr Sohn legt Lakritzstangen auf ihren Grabstein.Sabine Gudath

Dann der letzte Tag. Ihr Sohn war bei ihr, auch ihre Schwester, die ihr über viele Monate unermüdlich beigestanden hatte. Sie aßen gemeinsam Abendbrot und übernachteten in ihrer Wohnung. Morgens ein langes gemeinsames Frühstück, bis die Sterbehelfer kamen. Der Sohn erzählt, dass alles ganz ruhig und geordnet ablief. Der Anwalt der Sterbehelfer hatte bereits die Polizei informiert. Und nach Marias Tod kamen Kriminalbeamte, nahmen die Personalien von allen im Raum auf und untersuchten den Fall.

Der Sohn erzählt, dass er kurz vor dem Tod seiner Mutter nach draußen ging. „Meine Mama starb in den Armen ihrer Schwester und eines Freundes“, sagt er und muss eine Pause machen. Muss tief durchatmen, blinzeln, die Stimme sammeln und die Tränen stoppen. Er erzählt, dass am Tag nach ihrem Tod Post vom Gesundheitsamt in ihrem Briefkasten lag. Ihre Quarantäne dauere noch zwei Tage, stand in dem Schreiben.

Maria Kunert ist tot. Sie wollte es so. Aber sie ist nicht weg. Freunde und Verwandte kommen und legen Blumen an ihr Grab oder Lakritze auf ihren Stein. So wie ihr Sohn es nun macht. „Die letzten Wochen waren für meine Mama hart, richtig hart“, sagt er, während die Sonne strahlt. „Aber diese letzten Stunden – vom gemeinsamen Frühstück bis zum Abkühlen ihrer Leiche im Bett – waren so undramatisch, so beruhigend. Es war das Friedvollste, was wir in den letzten vier Monaten ihres Lebens ‚erlebt‘ haben.“