Berlin-Nicht ohne mein Auto – das denken viele Deutsche. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg scheint das anders zu sein. Bei einer repräsentativen Umfrage in zwei Stadtvierteln zeigten sich viele Bürger offen gegenüber starken Einschränkungen des Autoverkehrs. Alle Parkplätze im Kiez abschaffen, Kieze komplett autofrei: Dafür konnten sich Mehrheiten der Umfrageteilnehmer erwärmen. „Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Menschen in unseren Kiezen deutlich weniger Autos und eine gerechtere Aufteilung der vorhandenen Flächen wünschen. Wir fühlen uns bei dem, was wir tun, bestätigt“, sagte Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne). „Beim Thema Verkehrswende wird viel über die Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger spekuliert. Daher sind Befragungen wie diese so wichtig“, so Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Das WZB hat das Meinungsforschungsinstitut Infas mit der Online-Befragung beauftragt.
Was wollen die Bürger? Ein paar Beispiele: 70 Prozent der Befragten fordern mehr Platz zum Fahrradfahren, 63 Prozent mehr Platz für Fußgänger. Auch Spielmöglichkeiten und Grünflächen fanden große Zustimmung. 25 Prozent bezeichnen mehr Parkplätze als wichtig oder sehr wichtig. Zu wenig sichere Radwege sowie die Lärm- und Abgasbelastung durch den Autoverkehr gelten als größte Verkehrsprobleme.
Probeweise Umgestaltungen des Straßenraums, wie es sie im Bezirk zum Beispiel in Form von Pop-Up-Radwegen gibt, fanden 80 Prozent der Befragten äußerst positiv, positiv oder eher positiv.
Lieber Grünflächen und Fahrradbügel als Parkplätze
Dann ging es um die Bewertung von Szenarien. Szenario Nummer 1 sieht vor, dass jeder zehnte Pkw-Stellplatz umgewidmet wird, etwa für Grünflächen oder Fahrradstellplätze. Im Kreuzberger Graefekiez bewerteten dies 78 Prozent zustimmend: äußerst positiv, positiv oder eher positiv. Im Friedrichshainer Samariterkiez waren es 80 Prozent.
Im Szenario 2 fallen alle Parkplätze im Kiez weg. Hier betrug die Zustimmung im Graefekiez 68, im Samariterkiez 69 Prozent.
Szenario 3 geht am weitesten: Alle Parkplätze verschwinden, und private Pkw dürfen auch nicht mehr ins Stadtviertel fahren. Einen autofreien Kiez bewerteten 61 Prozent der Kreuzberger Umfrageteilnehmer zustimmend, in Friedrichshain 52 Prozent.
Mehr als tausend Menschen nahmen teil
Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten hatte rund 6.000 Bürger angeschrieben, 1041 nahmen an der Online-Befragung teilt. „Das ist eine sehr hohe Quote“, so Knie. Das Durchschnittsalter betrug 42 Jahre, Männer und Frauen waren zu gleichen Teilen vertreten. 47 Prozent der Befragten haben einen Migrationshintergrund, 83 Prozent mindestens das Abitur. 59 Prozent sind erwerbstätig. Bei den Parteipräfenzen dominieren die Grünen, mit denen zum Beispiel im Graefekiez 37 Prozent sympathisieren. Dort folgen die Linke (elf Prozent) und die SPD mit zehn Prozent.
Und das Mobilitätsverhalten? Zwar haben 80 Prozent der Befragten einen Führerschein, aber 55 Prozent leben in einem autofreien Haushalt. Nur zwölf Prozent nutzen täglich oder fast täglich das Auto – knapp die Hälfte das Fahrrad.
Kritik an der SPD - „aus der Zeit gefallen“
Welche Folgen zieht der Bezirk aus den Ergebnissen? „Wir haben nun erfahren, dass wir offenbar auf dem richtigen Weg sind“, sagte Bezirksbürgermeisterin Herrmann. Doch bevor fest steht, welches der drei Szenarien in einzelnen Stadtvierteln umgesetzt wird, müsse es eine umfassende Bürgerbeteiligung geben.
Andreas Knie befürchtet jedoch Rückschläge bei der Mobilitätswende, falls die SPD nach der Wahl im September das Verkehrsressort im Senat übernimmt oder auf andere Weise Einfluss darauf bekommt. Es sei zu befürchten, dass die Wende blockiert wird - nach dem Motto „freie Fahrt für freie Bürger“, sagte der Wissenschaftler. Das zeige nicht nur die Blockade der geplanten neuen Abschnitte des Berliner Mobilitätsgesetzes, sondern zum Beispiel auch das Festhalten am Weiterbau der Autobahn A100 nach Treptow. Für Knie ist dies ein „längst aus der Zeit gefallenes Projekt“.
Monika Herrmann bemängelte, dass die Berliner SPD „Politik für die Außenstadt“ betreibe – zudem mit untauglichen Rezepten. Denn der geforderte U-Bahn-Ausbau dauere zu lange, rasche Verbesserungen wären erforderlich, sagte sie. „Ich weiß, wovon ich rede“, so die Grünen-Politikerin. Als Tochter eines CDU-Politikers wuchs sie in Rudow auf, wo auf manchen Linien gegen 20 Uhr der letzte BVG-Bus fuhr.
Als die Grünen-Politikerin und Politikwissenschaftler Knie am Donnerstag auf der Schönleinstraße in Kreuzberg die Daten vorstellten, bekamen sie eine Vorgeschmack auf die Diskussion. „Sie wollen den Autoverkehr kriminalisieren“, sagte ein Anwohner der Glogauer Straße, der zufällig des Weges gekommen war. Grüne Politik versuche, einen Bereich des Verkehrs „tot zu machen“. Der selbständige Handwerker fragte sich, wie künftig ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung zur Arbeit gelangen soll. „Ich gehöre auch zur arbeitenden Bevölkerung“, entgegnete ein anderer Passant. „Ich fahre jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit und würde mich freuen, wenn der Radverkehr mehr Platz bekäme.“ Er habe nichts dagegen, Parkplätze aufzuheben.
Für die Unternehmen in den Kiezen und den Lieferverkehr werde es Ladezonen geben. Doch klar sei, dass sich auch Lieferfahrer an die Regeln halten müssten - was Monika Herrmann einen Fahrer, dessen Unternehmen für UPS unterwegs ist, bei dem Termin am Donnerstagvormittag spüren ließ. Der Mann war mit seinem Fahrzeug unberechtigterweise in den gesperrten Abschnitt der Schönleinstraße eingedrungen und machte sich daran, eine der rot-weißen Kunststoffbarrieren wegzuräumen. Herrmann entwand sie ihm und sorgte dafür, dass das Lieferauto den Bereich rückwärts verließ.




