Um kurz nach sieben am Sonntagabend ist Kenan Kolat optimistisch. Er läuft zwischen dem Grill, der auf dem Hof des Engelnest in Schöneberg aufgebaut ist, und der Leinwand hin und her. Wendet Sucuk auf dem Rost, verfolgt die neuste Hochrechnung, prüft Twitter auf seinem Handy. Sein Kandidat, Kemal Kilicdaroglu, hat es dort schon gepostet: „Wir liegen vorn“, übersetzt Kolat.
Kolat ist Chef der CHP in Berlin, der Partei des Mannes, der Präsident Erdogan herausgefordert hat und nun vielleicht bezwingen könnte. Im Engelnest gibt es am Wahlabend ein Public Viewing der Partei. Die Stimmung ist fröhlich, aber auch abwartend. „Es scheint ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu werden“, sagt Kolat. „Das wird ein langer Abend.“
Auf einer Reihe roter Stühle mit gutem Blick auf die Leinwand richtet sich die Frauen-Gruppe der CHP Berlin ein. Sie sei „sehr optimistisch“, sagt Nese Meyer. Die Wahlhelfer der CHP hätten aus den Wahllokalen in der Türkei „positive Nachrichten“ an die Parteizentrale gesendet, hat sie gehört. Der Vorsprung ihres Kandidaten könnte schon größer sein, als im Fernsehen gemeldet. Die Frauen machen einander Mut.
Gina Gülüsan Steputtis ist zum Engelnest gekommen, weil sie zuhause kein türkisches Fernsehen hat und „es schon gar nicht mehr ausgehalten“ hat vor Spannung. Sie erzählt, wie sie im Konsulat in Berlin wählen war und auch ihre Mutter, 82 Jahre alt, mitgenommen hat. Der Weg sei nicht einfach für die alte Dame gewesen. Aber so wichtig. Auch die Mutter, die einst als Gastarbeiterin nach Berlin kam und lange im Zoo die Grünanlagen pflegte, unterstütze Kilicdaroglu. Die ganze Familie, Aleviten, seien Anhänger der CHP.

„Ich hoffe, er gewinnt, dass wir einmal einen Erfolg haben“, sagt Steputtis, die zehn Jahre alt war, als sie nach Berlin kam und als Beamtin bei der Post gearbeitet hat. Sie nennt Kilicdaroglu den „Gandhi der Türkei“.
„Die Türkei muss es endlich schaffen, wieder zur Demokratie zu kommen und ein Teil von Europa werden. Wir wollen wieder selbstbestimmt und frei leben.“ Als sie am Abend hergekommen sei, sei sie guter Dinge gewesen. Nun steigt ihre Nervosität.

Gegen 20 Uhr liegt dann Erdogan in den Umfragen vorn. Der Hof vom Engelnest ist voll, die Menschen starren auf die Leinwand. Die türkischen Fahnen werden noch nicht geschwenkt. Kenan Kolat tritt auf die Bühne und sagt: „Egal, wie es ausgeht, ob wir es heute schaffen oder in zwei Wochen, wir werden auf jeden Fall heute feiern.“

Nese Meyer verzieht die Stirn. Sie habe überhaupt keine Lust, noch zwei Wochen auf den Wahlsieg zu warten. „Erdogan hat die Türkei ausgenommen wie eine Krake.“ Damit müsse Schluss sein. Je eher, desto besser.
Haben wenigstens die in Berlin lebenden wahlberechtigten Türken Kilicdaroglu gewählt? Mehr als in jeder anderen deutschen Stadt offenbar, das wird am Montag bekannt. Bei den Stimmen, die im Konsulat in Berlin abgegeben wurden, liegen Erdogan und sein Herausforderer mit je 49 Prozent gleichauf. In allen anderen deutschen Städten liegt Erdogan weit vorn. In Essen sogar mit 77 Prozent.


