Fabian Orru ist sauer. „Rund die Hälfte der Gäste gibt Trinkgeld“, sagt er, „für die andere Hälfte der Menschen sind Fast-Food-Ketten und Restaurants das Gleiche.“ Sie verstünden nicht, dass ein Gaststättenbesuch eine Serviceleistung sei. Orru ist Oberkellner im Ristorante Piazza Rosa, einem italienischen Restaurant am Roten Rathaus. Der 47-Jährige weiß noch genau, wann es begann, dass die Touristen weniger „tippen“ wollten, wie es im Englischen heißt: mit der Eroberung von Billig-Airlines. „Vor 20 Jahren kamen nur Touristen mit einem üppigen Geldbeutel in unser Restaurant, jetzt kann das mit Easyjet jeder tun, und sie essen zu viert eine Pizza ohne Getränke – und ohne Trinkgeld.“
In Deutschland herrscht eine regelrechte Trinkgeld-Debatte seit dem vergangenen Wochenende. ARD-Moderatorin Anja Reschke schrieb auf ihrem Twitter-Account von einer Kellnerin, die sich über fehlendes Trinkgeld beschwerte. Sie listete Beispiele auf, darunter eine 7000 Euro teure Familienfeier ohne einen Cent Trinkgeld. In einem weiteren Vorfall heißt es, dass „zwei Frauen um die 40, dem Anschein nach nicht arm“, stundenlang in dem Lokal an zwei Cappuccinos genippt hätten und ebenfalls kein Trinkgeld dazugaben. Dabei gilt in Deutschland der ungeschriebene Trinkgeld-Knigge: Experten empfehlen etwa zehn Prozent der Gesamtrechnung für die Servicekräfte.

Oberkellner Orru: „Falls Gäste uns Trinkgeld hinterlassen, dann sind zehn Prozent schon sehr gut.“ Die meisten ließen nur drei bis fünf Prozent der Gesamtrechnung an Trinkgeld da. „Wenn es gut läuft, dann gibt einer von 50 Gästen einen Zuschlag von zehn Prozent.“ Touristen aus Skandinavien und den USA sollen nach Angaben des Kellners die besten Trinkgelder geben, während Spanier, Italiener, Franzosen und Asiaten offenbar „keine Ahnung von der Trinkgeldkultur haben“.
Keiner will mehr in der Gastro arbeiten? Kein Wunder. Meine Bekannte (Studentin) arbeitet seit ein paar Wochen nebenbei als Aushilfe in einem Lokal an der Hamburger Alster. Schön gelegen, mit Terrasse, manche kommen für Kaffee und Kuchen, manche essen richtig und am Wochenende
— Anja Reschke (@AnjaReschke1) July 30, 2022
Angestellte in der Gastronomie kritisieren die Entwicklungen rund ums Trinkgeld in Deutschland. Dabei sind die Gründe vielfältig: Steigende Lebensmittelpreise, die drohende Energiekrise, für die viele sparen wollen, und Folgen der Corona-Pandemie tragen sicherlich zur Trinkgeld-Flaute in Berlin bei. Hinzu kommen das vermehrte Bezahlen mit Kredit- und Girokarten sowie fehlende Servicekräfte. Kellner wurden im Zuge der Pandemie entlassen oder wechselten freiwillig den Job und fehlen immer noch. Weniger Service heißt weniger Kundenkontakt und das bedeutet auch weniger Trinkgeld.
„Jeder, der sich beschwert, ist sehr gierig“
Allerdings gibt es in der Hauptstadt auch Stimmen, die Anja Reschke widersprechen. David Wolny ist Schichtleiter im Hofbräuhaus am Alexanderplatz und sagt, dass es hier weiterhin sehr gute Trinkgelder gebe. „Ich würde mich über Trinkgelder in Deutschland nicht beklagen.“ Er geht sogar noch weiter: „Jeder, der sich beschwert, ist sehr gierig, schließlich sind die Löhne auf 13 Euro gestiegen.“ Gefragt, welche Touristen das meiste Trinkgeld geben, ähnelt seine Antwort der seines italienischen Kollegen auf der anderen Seite des Alexanderplatzes: „Amerikaner geben das meiste Trinkgeld, auch Deutsche haben eine ausgeprägte Trinkgeldkultur. Hingegen geben Asiaten und Franzosen nichts dazu“, so Wolny.

In der Tat ist es in China, Japan oder Korea nicht üblich, Trinkgeld zu geben. Im Gegenteil: Lässt man dort Geld auf dem Tisch liegen, tragen es die Kellner dem Gast hinterher. Dabei könnte die Trinkgeld-Problematik in Deutschland mit strukturellen Gegebenheiten der Gastronomie hierzulande zusammenhängen. So berichtet ein Barista der Berliner Zeitung, dass viele Cafés inzwischen Selbstbedienung eingeführt haben. Schon allein deshalb gibt es weniger Kontakt zwischen Dienstleister und Kunden, was wiederum in weniger Trinkgeld resultiert.
Yuna, eine kolumbianische Mitarbeiterin im Café What Do You Fancy Love am Rosa-Luxemburg-Platz, sieht die Selbstbedienung als Hauptgrund für fehlendes Trinkgeld. „Oftmals bekommen wir nur aufgerundetes Geld in unsere Trinkgeld-Box“, sagt sie. Als Beispiel werden 12,40 Euro auf 13 Euro aufgerundet. Die Wahlberlinerin erklärt, dass für sie solche Trinkgeldbeträge nicht entscheidend seien, sondern vielmehr der Stundenlohn und wie viele Tage sie im Monat arbeite.
Auch der Berliner Psychologe Arthur Bohlender will nicht pauschal über die Trinkgeldkultur der Deutschen urteilen. Trinkgeld sei eine individuelle Entscheidung. „Es gibt nicht diesen einen Maßstab.“ Sozioökonomische Gründe wie die Inflation würden zu den derzeitigen Entwicklungen dazugehören, sagt der Psychologe. Er betrachtet die Debatte aus Sicht der Kundschaft, also der „Gebenden“. „Auch die Kunden hoffen auf ein kollektives Verständnis dafür, dass es nun mal in der jetzigen Situation nichts gibt.“ Er wirbt für mehr Verständnis für Kunden, die etwas mehr auf jeden Cent schauen müssen als vor einem Jahr.


