Deutschland sucht den Superstar. Zumindest die Superweiche ist schon gefunden – in Berlin. Superweiche: So nennt man bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) die ziemlich große Konstruktion, die in Moabit montiert und nun abgenommen worden ist. Sie wird ein Teil der nächsten neuen Straßenbahnstrecke sein, die in Berlin eröffnet wird. Nach langer Pause wächst das Tramnetz wieder – diesmal weiter in den Westen der Stadt, der jahrzehntelang straßenbahnfrei war.
Ortstermin in der Turmstraße, am gleichnamigen U-Bahnhof an der U9. Wo viele Autos und Busse unterwegs waren, ist es ruhig geworden. Das ist kein Wunder, denn dieser Teil der Turmstraße ist erst mal nicht mehr befahrbar. Wie auf dem Abschnitt zum Gericht sind nur Fußgänger und Radfahrer erlaubt. Rot-weiße Barrieren sperren die Fahrbahn ab. Hier entsteht die Straßenbahnstrecke, auf der im nächsten Jahr der Betrieb beginnen soll. Bevor die Züge der Linie M10 nach ihrer Reise von Friedrichshain und Prenzlauer Berg hier in Tiergarten aufs Pausengleis rollen, werden sie die Superweiche passieren.
Eine der längsten Baustellen Berlins
Zwei parallele Gleise, dazwischen Verbindungen, die von oben wie ein X aussehen: So sieht sie aus, die Konstruktion in der Mitte der Turmstraße. Wobei Superweiche natürlich nicht die korrekte Bezeichnung ist: In der Fachterminologie handelt es sich um eine doppelte Gleisverbindung, wie Holger Pöhland erläutert. Er ist Mitglied des BVG-Projektteams und an diesem Vormittag zu der Straßenbahnbaustelle gekommen, die sich rund zwei Kilometer lang durch diesen Teil von Mitte zieht.

„In unserem Berliner Straßenbahnnetz gibt es bereits zwei doppelte Gleisverbindungen“, erklärt der Mann in der grellroten Warnweste. „An der Endstelle der M2 in der Dircksenstraße am Alexanderplatz und auf dem Gelände des Straßenbahn-Betriebshofs Marzahn. Aber keine dieser Konstruktionen ist so groß wie die, die jetzt an der künftigen Endstelle in Moabit verlegt worden ist.“
Ein Blick auf den Faktenzettel: Alles in allem bringt die Superweiche 77,6 Tonnen auf die Waage. Davon sind 41 Tonnen Stahl – so schwer sind die Schienen, zu denen Zungenvorrichtungen, Herzstücke und andere Weichenteile gehören. Sie ruhen auf 100 Betonschwellen. Die Gesamtlänge der Weichenanlage wird mit 46,1 Metern beziffert, die maximale Breite liegt bei 8,70 Metern.
Aber warum ist die Superweiche so groß – die größte im größten deutschen Straßenbahnnetz? Montiert unweit der drittkürzesten Straße Berlins – die benachbarte Thusnelda-Allee ist gerade mal 50 Meter lang. Das liegt an der dortigen Haltestelle, an der die Fahrten beginnen und enden werden. Ihr Bahnsteig befindet sich zwischen den Gleisen. Er ist nicht nur 62 Meter lang, sondern auch rund fünf Meter breit. Das zieht die doppelte Gleisverbindung, die bei dem zu erwartenden dichten Verkehr für Flexibilität sorgen soll, in die Breite. Vorteil: Die daraus resultierenden großen Bogenradien verhindern, dass die stählernen Räder ins Quietschen kommen.
Für Autos künftig nur noch ein Fahrstreifen pro Richtung
Die Maßanfertigung ist ein Puzzle aus mehreren Teilen, das im Juli per Lkw aus Hamm in Westfalen nach Moabit geliefert wurde. Nach dem Zusammenbau erfolgte am Montag die Abnahme, so Pöhland. Nun werden andere Elemente der festen Fahrbahn gebaut. Beton fließt, um Lücken zu füllen. Man kann schon sehen, dass der Mittelstreifen der Turmstraße wegen der Tram künftig deutlich breiter ausfallen wird. Links und rechts davon hat nur noch jeweils ein Fahrstreifen für den Kraftfahrzeugverkehr Platz, vorher waren es zwei. Neu sind Radfahrstreifen an beiden Seiten.

Auch anderswo an der Neubaustrecke wird gearbeitet. Pöhland nennt ein Beispiel: „Im Verlauf der Straße Alt-Moabit haben die Leitungsbetriebe gezeigt, dass es möglich ist, notwendige Arbeiten gut zu koordinieren.“
Provisorische Laufbahn für den Berlin-Marathon
Dort sorgt der Berlin-Marathon, der am 25. September stattfinden soll, für Vattenfall und die anderen Unternehmen für zusätzliche Herausforderungen. Die Sportveranstaltung führt nahe dem Kilometer 6 über die Baustelle der BVG. „Damit die Läuferinnen und Läufer passieren können, entsteht zum Beispiel um eine Baugrube herum eine sechs Meter breite provisorische Fahrbahn“, so der Vizeprojektleiter. Sie wird danach wieder entfernt.
Bevor Holger Pöhland zur BVG kam, arbeitete er für die Deutsche Bahn. Zwölf Jahre lang war er am Neubauprojekt Dresdner Bahn im Süden von Berlin beteiligt. Der mittlerweile 43 Jahre alte Ingenieur für Verkehrswesen hat seinen Abschluss an der Technischen Universität Dresden erworben. An seinen Aufgaben bei den BVG-Straßenbahnprojekten reizt ihn, dass sie so komplex sind. Es geht nicht nur um Schienen, sondern auch um Straßen, Radwege, Grünstreifen. Ein Teil der geplanten 2210 Meter langen Tramtrasse, die vom Hauptbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße führt, wird begrünt.
Wie berichtet, hatte das Vorhaben holprig begonnen. Weil der Senat Gutachten zu Lärm und Erschütterungen nicht für ausreichend hielt, musste nachgearbeitet werden, das kostete Zeit. Radverkehrsanlagen mussten neu geplant werden. Im vergangenen August begannen die Bauarbeiten – endlich.
Wie läuft es? „Die Arbeiten an der neuen Straßenbahnstrecke liegen im Zeitplan“, sagt Holger Pöhland. „Natürlich wissen wir noch nicht, wie der nächste Winter wird. Aber wir sind zuversichtlich und gehen unverändert davon aus, dass die Strecke nach Moabit im ersten Halbjahr 2023 für den Verkehr freigegeben werden kann.“ Damit kommt die Straßenbahn 59 Jahre nach der letzten Streckenstilllegung in diesem Gebiet nach Moabit zurück. Präziser will die BVG nicht werden. Doch zu hören ist, dass die Streckeneröffnung nicht im Winter, sondern im kommenden Frühjahr stattfinden soll. „Eine warme Jacke wird man dann nicht mehr brauchen“, hieß es.
Die U-Bahn schnitt bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung besser ab
In der Invalidenstraße, der Rathenower Straße und auf einem Teil der Turmstraße liegen schon die Gleise, auf der die M10 im Fünf- oder Zehn-Minuten-Takt verkehren wird. Mehr als 50 Bäume wurden gefällt, mehrere Dutzend Autostellplätze fielen weg – für immer. Wurden die Kosten zeitweise auf 20 Millionen Euro beziffert, kam die BVG im vergangenen Jahr auf 33 Millionen Euro. Auf dieser Verkehrsachse erwarten Gutachter künftig bis zu 16.000 Nahverkehrsnutzer pro Tag, davon rund 10.000 bei der Straßenbahn. Ohne Tram wären es nur 10.950 Fahrgäste.

Ursprünglich war für die Verbindung vom Hauptbahnhof zur Turmstraße die U-Bahn im Gespräch. Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung für die Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz nach Moabit ergab, dass der Nutzen das 1,43-Fache der Kosten betragen würde. Das jetzige Straßenbahnprojekt hat es nur auf einen Faktor von 1,2 gebracht. Doch es sei schneller zu verwirklichen, so der Senat.
Die Verlängerung der Verlängerung wird schon geplant: Von 2028 an soll die Ost-West-Verbindung weiter zum Bahnhof Jungfernheide in Charlottenburg führen – noch tiefer hinein in den Westen.




