Die Alltagsheldin vom Prinzenbad

„Eenen scheenen Dag, allet Gute“ – und plötzlich war die Zeitungsverkäuferin weg

Die Zeitungsverkäuferin, die zum Inventar des Kreuzberger Sommerbades gehörte, ist verschwunden. Die Stammgäste sorgen sich. Und sind doch selbst schuld.

 Auf diesen Holzbohlen am Stadtbad Kreuzberg in der Prinzenstrasse hat Emma immer gesessen
Auf diesen Holzbohlen am Stadtbad Kreuzberg in der Prinzenstrasse hat Emma immer gesessenEmmanuele Contini

Jahrelang, vielleicht sogar jahrzehntelang, saß sie im Sommer vor dem Kreuzberger Freibad und verkaufte Zeitungen. Eine kleine, ausgemergelte Frau mit wasserblauen Augen, einem Kopftuch über den grauen Haaren und einem schlecht sitzenden Gebiss, das beim Sprechen manchmal verrutschte. „Eenen scheenen Dag, allet Gute“, rief die Rentnerin in ihrem osteuropäischen Akzent den Badbesuchern zu. Egal, ob sie eine Zeitung bei ihr gekauft hatten oder nicht.

In diesem Jahr fehlt „die Frau links vom Prinzenbad“, wie der Tagesspiegel einmal ein großes Porträt der Rentnerin überschrieben hat; sie heißt Emma Hartmann, erfährt man in dem Text, wurde 1941 in Saratow an der Wolga geboren und zog 2001 – wie zuvor schon ihre Schwester – in das Land ihrer Vorfahren, nach Deutschland. „Ganz viele Gäste fragen nach Emma und machen sich Sorgen“, berichtet Matthias Kutscha von der Cafeteria des Bades. „Und gleichzeitig sitzen sie alle da und gucken auf ihre Handys.“ Eine Zeitung nehme heutzutage doch kaum mehr jemand zur Hand ...

Hunde-Hüterin und Reinemachfrau

Das hat Folgen: Der Zeitungsladen im U-Bahnhof Prinzenstraße habe kürzlich aufgegeben. Und auch Emma Hartmann habe das Geschäft mit den Zeitungen nicht mehr genug eingebracht.

Mit den Einnahmen hat die frühere Krankenschwester ihre kleine Rente aufgebessert; die Begegnungen mit den Stammgästen des Bades vertrieben auch ihre Einsamkeit, hier hatte sie Ansprache, hier fand sie Aufgaben. Oft schnappte sie sich einen Besen und kehrte den Vorplatz, manchmal strickte sie Wollsocken, mitunter hütete sie den Hund einer Schwimmerin, die derweil ihre Bahnen zog.

Schmerzhafte Erkenntnis

Jetzt bleibt ihr Platz leer, ihr nach Geschäftsschluss im Gebüsch versteckter Zeitungsständer hat ausgedient. Emma Hartmann ist weg – und ihr Verschwinden bringt eine alte Erkenntnis wieder zum Vorschein: Wie wertvoll etwas ist, das man als selbstverständlich erachtet, merkt man oft erst, wenn es plötzlich nicht mehr da ist.

Wenn es den Schuhladen nicht mehr gibt, in dem man immer ein hübsches Paar fand, und man feststellen muss, dass es gar nicht mehr so viele vergleichbare Einkaufsmöglichkeiten gibt. Oder wenn einem bewusst wird, dass man zum letzten Mal das leckere Brot vom Bäcker im Kiez isst, weil der seinen Laden aufgibt. Und am schmerzhaftesten ist die Erkenntnis, dass etwas vermeintlich Selbstverständliches für immer verloren ist, wenn ein Mensch plötzlich stirbt.

Im Fall von Emma Hartmann gibt es eine gute Nachricht: Sie lebt. Ich habe sie neulich durch Kreuzberg spazieren sehen, mit ihrem Trolley. Vielleicht hat sie einen neuen, lukrativeren Platz? Dann wissen Sie, was zu tun ist!