Kolumne

Silvester-Krawalle in Neukölln: Ein Hilferuf an die „Tagesschau“

Wer waren die Täter in der Silvesternacht? Oder: Wie man sehr unglücklich formuliert.

Silvester in Neukölln.
Silvester in Neukölln.Volkmar Otto

Das Jahr begann aufregend für Thomas Rostek. Am 2. Januar wurde er live aus Berlin in die 14-Uhr-„Tagesschau“ geschaltet. Das passiert dem jungen RBB-Reporter nicht alle Tage, und dann sollte er auch noch über Silvester in Neukölln reden. Die Sprecherin wollte gemeinerweise wissen: „Wer sind denn die Täter?“ – Mutmaßliche Neuköllner, wäre eine salomonisch-lakonische Antwort gewesen.

Rostek ächzte: „Von den Tätern, äh, zu sprechen ist in solchen Kontexten immer ein bisschen schwierig. Tatsächlich ist es so, dass, ähm, die Gewerkschaft der Polizei sich, äh, dazu bereits geäußert hat und gesagt hat, es seien gruppendynamische Prozesse, ähm, also ein gesamtgesellschaftlich großer Druck, der geherrscht hat, ähm, geherrscht haben soll, anlässlich jetzt nach zwei Jahren Pandemie, und dass man da eben, äh, versucht, ähm, ähm, genau, dass man eben an Pyrotechnik auch leicht rankommt und dass dort eben, äh, dass zu großen Problemen geführt habe, richtig.“

Es klang wie ein verdeckter Hilferuf. Als hielte ihm unterhalb des Bildausschnitts die Antidiskriminierungsbeauftragte einen Bolzenschneider in den Schritt. Neben einigem Lampenfieber dokumentiert das Zitat, wie der Mann darum rang, nicht zu sagen, was offensichtlich war. Er litt, den Pressekodex im Hinterkopf. Demnach dürfen Medien die Zugehörigkeit von Delinquenten zu bestimmten Minderheiten nur erwähnen, wenn – mehr Gummi geht nicht in einen Paragraphen – „ein begründetes öffentliches Interesse“ besteht.

Ob begründet oder nicht: Den ersten Bedarf an Täterkontext hatten am 2. Januar unzählige Videos und Augenzeugen bereits gestillt. Heute, da nun schon über eine Woche lang über wenig anderes als Herkünfte und Milieus palavert wurde, klingt das surreal: Aber 38 Stunden nach Silvester bestand das öffentliche Interesse darin, ob die „Tagesschau“ das Unübersehbare benannte.

Als ich bei der Zeitung anfing, gab es am Nachrichtentisch eine Kladde. Das Tabubuch. Darin standen Maßgaben des Politbüros, welche Themen und Begriffe zu meiden seien. Einmal sollte nicht über Butter berichtet werden. Versorgungsprobleme. Das war die DDR. Niemand erwartete anderes. Gottlob funktioniert die BRD derzeit noch so, dass man sich mit der Nummer zum Kasper macht. Aber keine Häme, bitte. Nicht gegenüber dem Nachwuchsreporter. Bestimmt hat Rostek mitbekommen, was einem ebenfalls jungen Kollegen Mitte Oktober widerfuhr. In dessen Heimatstadt Ludwigshafen hatte ein somalischer Migrant spontan zwei Passanten erstochen, und der freie RBB-Mitarbeiter Jan Karon twitterte, Somalia sei „ein Shithole-Country mit Steinzeitkultur“.

Sehr spontan formuliert. Doch tatsächlich ist das Beste, was sich über jenen sogenannten Staat sagen lässt, dass er die Leistungen der Berliner Administration in sonnigem Glanze erscheinen lässt. Karons Aussage war im Kern, dass archaisch-anarchische Herkunftsverhältnisse bisweilen schwerer abzuschütteln sind, als es einer Ankunftsgesellschaft lieb sein kann. Eine Online-Empörungskamarilla – klein, aber bis an die Zähne mit mutwilligen Missverständnissen bewaffnet – befand das für volksverhetzend. Der RBB reagierte und verurteilte „jegliche Form von Rassismus“. Man sei mit Karons Produktionsfirma „im Gespräch über mögliche Konsequenzen“. Das war Feigheit vor der Meute, taugt aber durchaus zur Journalistenausbildung.