Berlin-Der Alexanderplatz an einem milden Nachmittag um 1860. Nur wenige Leute sind unterwegs, einige von ihnen blicken der schon recht tief stehenden Sonne entgegen auf etwas Ungewohntes: einen Fotografen, der sich mit einem großen hölzernen Apparat und schwarzem Tuch in etwas erhöhter Position in einem Haus aufgebaut hat. Dies ist die älteste bisher bekannte Fotografie des berühmtesten Berliner Platzes, der 1805 seinen heutigen Namen zu Ehren des russischen Zaren Alexander erhalten hat. Der Berliner Fotoliebhaber Marcellinus Prien hat sie identifiziert und ihre Entstehungszeit auf den Zeitraum zwischen 1857 und 1862 eingegrenzt (siehe auch Interview unten).
Im Berliner Schloss regierte seit 7. Oktober 1858 Friedrich Wilhelm als Prinzregent, der zehn Jahre zuvor als „Kartätschenprinz“ die Aufständischen der 48er-Revolution hatte niedermachen lassen, sich 1861 zum König krönte und 1871 als Wilhelm I. Kaiser des Deutschen Reichs werden sollte.
Genau in dieser politischen Übergangszeit entstand die Aufnahme – und dem entspricht der Eindruck, den der Platz dem Betrachter vermittelt: durchaus städtisch, aber die ländliche Vergangenheit ist präsent. Mindestens vier Pferdefuhrwerke, eines hoch beladen mit Heu, sind zu sehen. Bereits seit 1847 verkehrten viermal pro Stunde Pferdeomnibusse zum Potsdamer Platz – da war die heutige Funktion des Alex als Drehscheibe des öffentlichen Nahverkehrs bereits angelegt.
1826 war Unter den Linden das Licht der ersten Berliner Gaslaterne aufgeflammt – rechts im Bild steht 1860 auch eine auf dem Alex. Im Jahr 1855 hatte Ernst Litfaß die ersten 100 Annonciersäulen aufstellen dürfen. Natürlich hat der Alexanderplatz eine – zu entdecken hinter dem großen Fuhrwerk.
Seit 1681 der Viehhandel innerhalb der Berliner Stadtmauern verboten worden war, hatte auf der Fläche vor dem Stadttor der Ochsenmarkt stattgefunden, der größere Teil diente als Parade- und Exerzierplatz. Als das Foto entstand, war der Ochsenhandel als Klaegerscher Viehmarkt (seit 1826) am Landsberger Tor beheimatet.
Das Bild zeigt den Alex bereits gepflastert, und mittendrin steht das überaus städtische Element des Springbrunnens – etwa an der Stelle, wo später die Riesenbronzestatue der Berolina stehen sollte. Seit den 1970ern nimmt der DDR-bunte Brunnen der Völkerfreundschaft das Element wieder auf.
Der unbekannte Fotograf erfasst in seiner Aufnahme die Häuser Alexanderstraße 46 (links der Einmündung der Neuen Königstraße) und 45 (rechts davon). In älteren Stadtplänen ist diese Straße noch als „Contrescarpe“ markiert, was auf den Ursprung der Anlage hindeutet: Contrescarpe bezeichnete die äußere Stadtmauer beziehungsweise die Böschung des Hauptgrabens um eine Festung. Auf dem 1870 zugeschütteten Graben wurde ab 1882 die Berliner Stadtbahn erbaut.

Als eindrucksvollstes Gebäude sticht das „Haus mit den 99 Schafsköpfen“ und dreieckigem Giebel hervor (Nummer 45). Seinen Namen erhielt es wegen der auffälligen Fassadendekoration mit Schafsköpfen aus Stuck. Das Haus gehörte zu den etwa 300 sogenannten Immediatbauten, die König Friedrich II. 1783, nach dem Siebenjährigen Krieg, bei namhaften Architekten in Auftrag gab.
Um das Stadtbild Berlins zu verschönern, bezahlte der Alte Fritz den jeweiligen Bau vollständig oder teilweise und vermachte ihn jeweils einem verdienten Bürger mit der Verpflichtung, sich um den Erhalt einschließlich der repräsentativen Fassade zu kümmern. Das städtisch anmutende, vierstöckige Haus mit den 99 Schafsköpfen entwarf der Architekt Georg Christian Unger. Als das Foto entstand, gehörte es dem Sanitätsrat Dr. Hildebrandt. Der prominent im Giebelfeld platzierte goldene Hirsch erinnert an die Zeit, als in dem Gebäude das beliebte Gasthaus Zum Hirschen Gäste empfing.
Heilgymnastik im Haus mit den 99 Schafsköpfen
Im Untergeschoss praktizierte laut Reklameschild das „Dr. Löwenstein Institut für schwedische Heilgymnastik“. Tatsächlich fand Marcellinus Prien im Adressbuch von 1860 den Eintrag für „Löwenstein, Dr. pr. Arzt“. Gleich darunter steht „Hildebrandt, Dr. med. E.“ Ein Jahr später ist Dr. Löwenstein aus dem Adressbuch verschwunden. Nicht ausgeschlossen, dass Dr. Hildebrandt unter Löwensteins Namen weiter die moderne Gymnastik anbot. Das Haus wurde 1927 abgerissen, um Platz für den U-Bahn-Bau zu machen.
Der hinter dem markanten Haus aufragende Turm gehört zur 1780 geweihten Georgenkirche inmitten der Königsvorstadt. Bis 1701 hatte diese Georgenvorstadt geheißen, sie hatte sich rund um das Georgshospital entwickelt. Der 1898 errichtete Kirchenneubau wurde 1949 als Kriegsruine gesprengt.
Das Gebäude links (Nummer 46) ist noch älter als das Schafskopfhaus. Der Stelzenkrug, ursprünglich als Gasthof 1743 nach Plänen von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff mit zwei Geschossen errichtet, hat nun schon ein zusätzliches Stockwerk. Vor dem Stelzenkrug fand über lange Zeit der schon erwähnte Ochsenmarkt statt. Entscheidende Hinweise für die Datierung des Fotos liefern die am Haus angebrachten Firmenschilder: links das Wolllager Baumann, rechts an der Hausecke die Firma Fritz Woltmann. Beide stehen in den Adressbüchern von 1857, 1860 und 1861 als „Baumann, Kaufmann“ und „Woltmann, Tabackhdlr“. 1862 taucht „Woltmann, A. F. L., Kaufmann und Tabacksfabrikant“ in der Stralauer Straße 46 auf.
20 Jahre später war der Stelzenkrug verschwunden, an seiner Stelle entstand 1883 bis 1884 das noble Grand Hotel mit 185 Zimmern. Auch dieses Gebäude fiel im Zweiten Weltkrieg in Trümmer. Die Neugestalter des Alex verschoben die Alexanderstraße um fast 100 Meter Richtung Nordosten; ursprünglich verlief sie etwa entlang der Platzseite des Park-Inn-Hotels Richtung Saturn. Eine Orientierung bietet die zwischen Brunnen und Hotel in den Boden eingelassene Bronzeplatte: Dort, wo 1860 die Neue Königsstraße einmündete, hatte am 19. März 1848 die größte von den Revolutionären errichtete Barrikade gestanden.

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Interview mit dem Entdecker des Bildes, Marcellinus Prien
Historische Stadtbildfotografien und Fototechnik sind eine Leidenschaft von Marcellinus Prien, als Experte möchte er sich nicht verstanden wissen. Er erzählt, wie er das älteste Foto vom Alexanderplatz identifizierte und wie die Technik damals funktionierte.
Herr Prien, wie haben Sie die Aufnahme entdeckt?
Bei einer Auktion im Internet habe ich es von einem Privatanbieter ersteigert. Es haben nicht sehr viele Leute mitgeboten, und der Preis war völlig in Ordnung. Woher der Anbieter das Bild hatte, habe ich leider nicht nachgefragt.
Wie war das, als sie die Aufnahme zum ersten Mal in der Hand hielten?
Zuerst war ich enttäuscht, weil ich geglaubt hatte, dass es sich um einen Originalabzug handelt. Die handschriftliche Notiz auf der Rückseite lautete ja „Alexanderplatz um 1870“. Aber es handelt sich um eine Abfotografie. Das hatte ich im Internet nicht erkennen können. Anhand des Fotopapiers und des erkennbar alten Passepartouts ist von einer um 1890/1895 erfolgten Abfotografie auszugehen.

Die Leidenschaft für alte Stadtfotografie wuchs aus einem frühen Interesse an Geschichte, vor allem Familiengeschichte.
Die Beschäftigung mit alten Techniken der Fotografie kam hinzu. Er experimentiert u. a. mit den Verfahren der Kollodium-Nassplatten-Fotografie. Faszinierend dabei findet er die Verbindung von Kunst und Handwerk.
Was hatte Sie veranlasst, für dieses Bild bei der Auktion mitzubieten?
Mich interessieren Fotografien aus dem alten Berlin; ich habe eine kleine Sammlung. Als ich das Bild im Angebot entdeckte, dachte ich: Das ist super, das ist der Alexanderplatz, das kenne ich so nicht, das hätte ich gern.
Hatten Sie etwas Besonderes darauf entdeckt?
Ich kannte keine so frühe Ansicht mit diesem Blickwinkel. Mir war zum Beispiel nicht bekannt, dass am Alexanderplatz ein Brunnen stand. Als ich nach vergleichbaren Aufnahmen suchte, fand ich den Brunnen dann auf jüngeren Aufnahmen, schon mit etwas Grün drumherum. Und er ist nicht mehr so präsent.
Wie sind Sie vorgegangen, um das Entstehungsjahr genauer zu bestimmen?
Ich habe das Bild sehr gut eingescannt und vergrößert, um die Beschriftungen erkennen zu können. Dann habe die Häuser sehr genau betrachtet, jedes Detail. Da die Fotografietechnik sehr gut ist, ist das Bild richtig scharf. Dann habe ich anhand der Reklametafeln an den Häusern in den Adressbüchern der entsprechenden Jahre nachgeschaut. Diese Bücher sind bei der Landesbibliothek Berlin digital im Internet verfügbar. Schritt für Schritt konnte ich eingrenzen, wann die Werbetreibenden an der jeweiligen Adresse vorhanden waren. So bin ich auf den Zeitraum 1858 bis 1862 gekommen.
Findet man in seinen privaten Alben oder Fotokisten ein altes Foto, von dem man gern wüsste, was zu sehen ist – zu welchem Vorgehen raten Sie?
Man sollte zumindest die Stadt des Entstehens kennen. Wenn es sich um ein altes Stück handelt, rate ich, ins Stadtmuseum zu gehen, dort gibt es eine Fotosammlung und Experten, die das Bild vielleicht einordnen können. Man braucht jemanden, der schon viele Berlin-Fotos gesehen hat. Vor allem im Internet kann man selber nach prägnanten Gebäuden suchen. Im Falle des Fotos vom Alexanderplatz gab es mit der Georgenkirche und dem Haus mit den 99 Schafsköpfen gute Hinweise.
Mit welcher Technik arbeitete der Fotograf?
Mit einer großen Plattenkamera. Er musste ein Negativ herstellen, von dem er Abzüge machen konnte. Weil das Bild um 1860 entstanden ist, gehe ich davon aus, dass es mit einer Glasplatte gemacht wurde. Der Fotograf musste an Ort und Stelle die Beschichtung auf der Platte herstellen und dann zeitnah fotografieren und danach sofort entwickeln.
Das Fotografieren geschah so, wie man es in alten Filmen sieht?
Ja. Der Mann mit der Holzbox auf einem Gestell unter einem schwarzen Tuch öffnet das Objektiv, indem er die Abdeckkappe abnimmt. So wird belichtet. Dann verschließt er die Lichtöffnung, entnimmt die Kassette mit der Glasplatte, geht in seine mobile Dunkelkammer, die er dabeihaben muss, um diese Platte sofort zu entwickeln.
Zu welchen Zwecken wurde damals fotografiert?
Der erste berühmte Berliner Stadtfotograf, Leopold Ahrens, arbeitete kommerziell. Er verkaufte einzelne Fotos oder Foto-Mappen – vom Schloss, der Oper, der Hedwigskirche ...
Ein neuartiges, tolles Souvenir …
… und sicherlich nicht preiswert.


