Gastbeitrag

IHK-Chef zum Volksentscheid: Wer Klimaneutralität vorschreibt, erreicht das Gegenteil

Berliner Unternehmen fordern ein realistisches Ziel für Klimaneutralität. Sebastian Stietzel, Präsident der IHK Berlin, ist deshalb gegen den Volksentscheid.

Sebastian Stietzel, Geschäftsführer der Marktflagge GmbH und Präsidiumsmitglied der IHK Berlin, ist für die konsequente Bekämpfung des Klimawandels, aber gegen den Volksentscheid.
Sebastian Stietzel, Geschäftsführer der Marktflagge GmbH und Präsidiumsmitglied der IHK Berlin, ist für die konsequente Bekämpfung des Klimawandels, aber gegen den Volksentscheid.Christian Kielmann, IHK

Gerade einmal sechs Wochen sind seit der Wiederholungswahl am 12. Februar vergangen, schon werden die Berlinerinnen und Berliner erneut an die Urnen gerufen. Während CDU und SPD noch über die Bildung einer neuen Koalition verhandeln, steht am Sonntag die Frage an, ob Berlin bis 2030 klimaneutral werden soll.

„Früher ist alles besser“, ruft es uns von den Plakaten entgegen. Aus unternehmerischer Perspektive zunächst ein charmanter Ansatz, weil er bei einem wichtigen gesellschaftlichen Thema zu Tempo und Konsequenz aufruft. Und wer die aktuellen Berichte zum Klimawandel liest, weiß, dass wir bei der Reduktion klimaschädlicher Emissionen keine Zeit zu verlieren haben.

Aber es lohnt sich wie immer, genauer hinzusehen. Denn im Rahmen des Volksentscheids steht nicht die Frage im Raum, ob wir für mehr oder weniger Klimaschutz sind – auch wenn es in der öffentlichen Debatte manchmal so scheint.Und es wird auch nicht über die abstrakte Frage entschieden, ob wir generell früher klimaneutral werden wollen. Sondern es geht ganz konkret um die Frage, ob wir das Ziel einer Klimaneutralität bis 2030 für Berlin gesetzlich vorschreiben wollen.

Hürden sprechen klar gegen Klimaneutralität bis 2030

Als Unternehmer interessiert mich zunächst, welche Ziele wir uns eigentlich derzeit gesetzt haben. Auch hier hilft der Blick ins Gesetz weiter, genauer ins Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz. 70 Prozent CO2-Senkung bis 2030 sind dort gesetzlich vorgeschrieben. Ein hartes Stück Arbeit, denn aktuell liegen wir bei rund minus 40 Prozent gegenüber 1990. Zwischenfazit: Wir haben bereits ein sehr ambitioniertes Ziel im Gesetz, für das wir uns in den nächsten sieben Jahren mächtig strecken müssen.

Wie steht die Unternehmerschaft zu einer Verschärfung? Wir haben diese Frage innerhalb der IHK intensiv und kontrovers diskutiert. Klar ist: Auch in dieser Krise liegt eine Chance! Durch die konsequente Umsetzung der Energiewende können die Unternehmen Berlin zu einem Vorreiter der nachhaltigen und resilienten Metropole machen.

Obwohl also einige Teile der Berliner Unternehmerschaft eine Verschärfung des 2030-Ziels unterstützen, hält die Berliner Wirtschaft mehrheitlich ein klimaneutrales Berlin bis 2030 aufgrund der gegenwärtigen Rahmenbedingungen für nicht realistisch umsetzbar.

Warum? Weil ganz real-existierende Hürden dagegen sprechen. Ohne schnellere Genehmigungsverfahren, ohne eine faire Lastenverteilung der Kosten und ohne genügend Fachkräfte ist die notwendige Vervierfachung des Tempos bei der Sanierung des Gebäudebestandes schlichtweg nicht zu schaffen. Für die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung braucht es ebenfalls schnelle Genehmigungsprozesse und die konsequente Durchführung der bereits gesetzlich verankerten kommunalen Wärmeplanung. Beides gibt es ebenfalls nicht.

Und ein klimaneutraler Hauptstadtverkehr innerhalb von sieben Jahren funktioniert nicht ohne eine massive Beschleunigung beim Ausbau von Ladeinfrastruktur und Stromnetzen, was nicht absehbar ist. Gerade kleinere Unternehmen würden aufgrund des erhöhten Anpassungsdrucks ihre Wettbewerbsfähigkeit national sowie international einbüßen.

Stillstand und Rückschritt für Stadt und Klima

Natürlich wird die Berliner Wirtschaft ihren Teil leisten, um die Klimaschutzziele früher als 2045 zu erreichen. Aber dafür muss der Rahmen passen. Ich wünsche mir, dass wir den Schwung, der durch den Volksentscheid in die Debatte gekommen ist, für einen wirklichen Innovationsschub nutzen. Mutige Ideen zulassen, statt sie gleich zu zerreden. Vor diesem Hintergrund kann ich persönlich die kürzlich bekannt gewordene Vision der BVG für eine massive Ausweitung des U-Bahn-Netzes nur begrüßen. Wenn wir wirklich alle Sektoren dekarbonisieren wollen, müssen wir uns auch trauen, groß zu denken.

Wer allerdings Klimaneutralität in sieben Jahren gesetzlich vorschreibt, der erreicht am Ende das Gegenteil und verhindert praktisch alle größeren Investitionsvorhaben. Dann brauchen wir nicht mehr über eine Vision für das Streckennetz der BVG reden, weil bereits die Verlängerung der U3 zum Mexikoplatz durch das verschärfte Gesetz de facto unmöglich würde.

Dann legen wir die Schulbauoffensive und den so dringend benötigten Wohnungsneubau bitte gleich ebenfalls in die Schublade. Denn all das erzeugt kurzfristig Emissionen und gefährdet die Klimaneutralität bis 2030. Das Ergebnis wären nicht Fortschritt, sondern Stillstand und Rückschritt. Für die Stadt und für das Klima.