Tourismusgeschichte

Reiseweltmeister DDR: Von wegen Urlaub im Zwangskollektiv

Ossis reisten nicht nur mehr als die Wessis, sondern auch anders. Trotzdem scheiterte die DDR gerade am Mangel an Reisefreiheit. Wie das? Ein Buch klärt auf.

August 1968 am Strand von Warnemünde: Urlauber aus der Volksrepublik Ungarn genießen gemeinsam mit FDGB-Urlaubern ihren DDR-Ostseeurlaub.
August 1968 am Strand von Warnemünde: Urlauber aus der Volksrepublik Ungarn genießen gemeinsam mit FDGB-Urlaubern ihren DDR-Ostseeurlaub.imago

Die DDR-Geschichtsschreibung beginnt erst jetzt, hieß es vor etwa fünf Jahren von Historikerseite. Bis dahin hatte es viel Sieger-Gefärbtes gegeben. Der Kampf der Systeme musste ja nach 1990 erst noch vollendet, die neue Ordnung im Osten etabliert werden. Da hätte differenzierte Geschichtsbetrachtung nur gestört.

Spott über die Ost-Deppen – ihr Konsum-, Ferien- und Freizeitverhalten, ihre Kleidung und Frisuren, ihre Wortwahl – beherrschte in jenen ersten Jahren das von Medien vermittelte Bild. Der Westen lachte über Zonen-Gabis erste Banane, über das Ossi, das sich im Trabant durch die Welt sächselte oder sich angeblich beim unsachgemäßen Gebrauch scharfer West-Gurkenhobel verletzte.

Zerrbilder vom Osten

Was da auch für ernstere Bereiche – etwa Kinderbetreuung und Schulsystem – als typisch DDR beschrieben wurde, geriet immer wieder zum Zerrbild. Als eine Ost-Berliner Mutter im Corona-Lockdown ihrem zehnjährigen Sohn Heimunterricht gab, blickte sie erstmals in dessen Geschichtsbuch, las das DDR-Kapitel und reagierte empört: „Ich bin in der DDR aufgewachsen, aber das dort dargestellte Land der Total-Bespitzelung, Vollunterdrückung und Freudlosigkeit kannte ich nicht.“ So ging es nicht nur ihr. Selbst Angela Merkel bekannte gegen Ende ihrer Kanzlerschaft, wie sehr Ost-Zuschreibungen sie gekränkt hatten.

Nun soll man den Zeitzeugen nicht das finale Urteil zugestehen, sie sehen ihren jeweiligen Ausschnitt der Realität und gelten – auch dafür gibt es Gründe – als Feinde des seriösen Historikers, der viele Quellen heranzieht. Aber Zeitgenossen sollten in den von Zeithistorikern dargestellten Verhältnissen die eigenen Erfahrungen wenigstens zum Teil wiedererkennen.

Forschung zum DDR-Alltag wird besser

Mit den Jahren tauchen nun Forschungen auf, die sich dem DDR-Alltag sachlich und neugierig zuwenden – und siehe da, es gibt Lichtblicke. Hier sei nur ein Beispiel genannt: „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei. Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979–1989“ von Sabine Pannen, erschienen 2018 im Links-Verlag.

Die Reihe solch verdienstvoller Arbeiten hat der Historiker und Soziologe Hasso Spode, Mitbegründer der historischen Tourismusforschung, mit seinem Buch „Urlaub macht Geschichte. Reisen und Tourismus in der DDR“ erweitert. Es beschäftigt sich mit einem für das DDR-Verständnis zentralen Lebensbereich. Spode erkundet das Reiseland DDR von Anfang bis Ende, von oben bis unten, bohrt an vielen Stellen der Oberfläche immer wieder in die Tiefe. Heraus kommt ein erfreulich vielschichtiges Bild. DDR-Bewohner werden ihr eigentümliches Ländchen gut wiedererkennen.

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Be.bra Verlag
Das Buch
Autor: Hasso Spode

Titel: Urlaub macht Geschichte. Reisen und Tourismus in der DDR

Verlag: Be.bra Verlag, Berlin 2022

Umfang: 208 Seiten

Preis: 22 Euro

Dass ausgerechnet der Wunsch nach Reisefreiheit zum ruhmlosen Ableben der DDR entscheidend beitrug, beschreibt das Buch – marxologisch ausgedrückt – in dialektischer Weise, denn das Ende kam just, als die DDR zum Reiseweltmeister aufgestiegen war. Kein Volk war so intensiv touristisch unterwegs wie das zwischen Rügen und dem Vogtland: Etwa 80 Prozent der DDR-Bürger über 14 Jahren verreisten im Jahr 1989 mindestens einmal für mindestens fünf Tage.

In der Bundesrepublik lag diese Reiseintensität genannte Kennzahl nur bei 67 Prozent. Da war die DDR echt Weltspitze, während die Westdeutschen hinter Skandinaviern, Schweizern und Holländern international auf einem Mittelplatz lagerten.

Ausreiseantrag: „Ich will reisen“

Auch wenn die Statistik hier und da wacklig sein mag: Die Behauptung, der Osten hätte hinter seiner Mauer einbetoniert festgesessen, stimmte nie. Doch das Reisen entwickelte andere Formen als im Westen und fand vor allem andere Ziele – und dieses Kriterium gab am Ende den Ausschlag. Ein Zitat aus dem Ausreiseantrag eines unzufriedenen DDR-Bürgers zeigt das: „Ich will nicht nur in einigen wenigen Ländern meinen Urlaub verbringen, sondern auch mal ins kapitalistische Ausland fahren. Zudem zeichnet sich ab, dass ein Urlaub im sozialistischen Ausland immer komplizierter wird und DDR-Bürger dort zu Touristen 2. und 3. Klasse abgestempelt werden.“

In Ungarn oder Bulgarien sah man Westmark lieber als Aluchips, und die chronisch devisenklamme DDR musste ständig entscheiden, wofür sie ihr Westgeld ausgab: moderne Investitionsgüter oder Kaffee und Bananen? Für Spanienurlaube war nichts übrig.

Spode berichtet vom touristischen Vorlauf in der Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen Kraft-durch-Freude-Projekt (KdF), beschreibt in spannenden historischen Details das Entstehen des DDR-Massensozialtourismus, seine Ausdifferenzierung, seine demokratischen Elemente ebenso wie die zunehmende Standes- und Klüngelwirtschaft beim Verwalten und Verteilen des begehrten Gutes Urlaub.

Halb glücklich durch Massentourismus

Er berichtet, wie der Feriendienst des FDGB entstand, wie er Konkurrenz von den Betriebsferienheimen bekam, wie sich Camping, Auslandsreisen, Individualtourismus entwickelten, immer neue Facetten entstanden, wie sich das Reisen entsprechend politischer Konjunkturen und Kurswechsel änderte.

Das Massenreisen auf qualitativem Mindestniveau machte die Leute aber nur halb glücklich. Je mehr sie hatten, desto mehr wollten sie. Und jeder Wunsch fiel im Sozialismus mit seinem Gesamtversorgungsversprechen auf Staat und Partei zurück. So kam es, dass die Leute Eingaben, also eine Art Petition mit Antwortgarantie, aus mickrigen Gründen an den Staatsrat schrieben – wegen übellaunigen Personals oder schlechter Zimmer in Ferieneinrichtungen. Spode schreibt: „Die SED war Gefangene eines von ihr selbst in Gang gesetzten Anspruchsdenkens.“

Grenzen des touristischen Wachstums

Spode trägt wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse geradlinig und teils heiter vor, verläuft sich nicht im Anekdötchenhaften. Von außen sonderbar Erscheinendes wie FKK, Devisenhotels, superteure Mongolei- oder Kubareisen etc. wird angemessen eingeordnet.

Da kennt sich einer aus – in den langen wie kurzen Linien der Entwicklung. Er sieht den Reise-Weg der DDR auch als Lehrstück für heutigen Overtourism mit allen Folgen für die jeweilige Region und den Globus. Man ahnt ja, dass es so nicht weitergeht. Auch dieses System nähert sich seinen Grenzen.

Spode hilft tüchtig beim Aufräumen mit alten West-Märchen, zum Beispiel dem quasi nicht existenten Individualtourismus in der DDR. Dazu Spode: „Sei es aufgrund der Glorifizierung der staatlichen ,Erholungsträger‘ in der DDR-Propaganda oder sei es aufgrund der Vorstellung, die DDR sei ein ,Zwangskollektiv‘ – selbst die gewissenhaften Statistiker des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen saßen der Legende vom alternativlosen Staatsurlaub auf.“

Explodierende Subventionen für Sozialtourismus

Spode selber sitzt auch einigen Märchen auf – so dem von Spontandemos beim Brandt-Besuch in Erfurt (war von Sowjet-Agenten orchestriert) oder der Schuldenlüge, wonach die DDR pleite gewesen sei (von der Bundesbank längst korrigiert). Gleichwohl: Auf Dauer war das durchsubventionierte System – egal ob Urlaub, Wohnung oder Brotpreis – keinesfalls zu finanzieren. Einen Realitätsschock durch Preisanpassung wiederum hätte das Regime nicht überlebt.

Die Staatszuschüsse für das Urlaubswesen hatten sich in der Honeckerzeit (ab 1971) auf eine halbe Milliarde Mark versechsfacht. Etwa die gleiche Summe kam aus anderen Fonds hinzu plus irreguläre Abzweigungen aus Betrieben etc. Drei bis vier Mark legte der Fürsorgestaat laut Spode auf jede Mark drauf, die er im Sozialtourismus einnahm.

Aus dem Fotoalbum der Familie Tkalec: FDGB-Urlaub in Kühlungsborn 1960, die Autorin (l.) war vier Jahre alt. Hier mit ihrer Mutter im angesagten Badeanzugmodell.
Aus dem Fotoalbum der Familie Tkalec: FDGB-Urlaub in Kühlungsborn 1960, die Autorin (l.) war vier Jahre alt. Hier mit ihrer Mutter im angesagten Badeanzugmodell.Privat/Tkalec

Die Freude am Wert der treffenden Analysen wird leicht gedämpft, wenn Spode immer mal kurz in den hämischen West-Ton fällt und zum Beispiel vom „frivolen Treiben“ der Partei- und Staatsführung in „Luxusvillen“ spricht – das Volk bekam 1990 doch eher spießiges Kleinbürgerinterieur zu sehen. Störend wirkt Spodes verschwenderischer Gänsefüßchen-Gebrauch, der den Lesefluss gehörig behindert. Warum müssen Worte wie meckern, Eingabe, Effektivitätserhöhung, eigensinnig oder Valuta-Mark in Tüddel eingehegt werden?

Aber davon abgesehen: Wer die DDR verstehen will, bekommt mit diesem Buch eine feine Annäherungshilfe. DDR-Bürger werden darin viel Biografisches wiederfinden, zum Beispiel Erinnerungen an das Kinderferienlager in Deutsch-Einsiedel vom Konsum Bitterfeld mit Doppelstockbetten unterm Dach oder an das Bansiner Betriebsferienheim der HO mit Waschschüssel, Wasserkanne und Außenklo – Erinnerungen an eine schöne Kindheit in der DDR.