Ostdeutschland

Realität statt Revolution: Wir waren die ersten Kapitalisten und scheiterten

Vor fast genau 30 Jahren endete für zwei ostdeutsche Brüder der kleine Traum vom großen Glück. Eine Geschichte über das Scheitern und 1000 hellblaue Blusen.

Markt im polnisch-deutschen Grenzgebiet im Jahr 1990.
Markt im polnisch-deutschen Grenzgebiet im Jahr 1990.imago/Werner Schulze

Berlin-Wir waren auf der Fahrt zu unserem großen Deal, und wir waren gut gelaunt, das Geschäft sollte uns in letzter Minute retten. Es sollte unsere ganz persönliche Wende werden. Im klapprigen VW-Bus fuhren wir von der Mitte Berlins weit hinein in den Westen der Stadt. Es war der 12. August 1991, ein Hochsommertag, der überraschend kühl war. Doch die paar Wolken konnten uns die Stimmung nicht verderben. Unsere Lieblings-Mix-Kassette lief, wir sangen mit und rauchten.

Wir waren junge Männer aus dem Osten. Mein Bruder, ein gelernter Autoschlosser, war über die Prager Botschaft in den Westen geflohen und hatte dort sein Glück als Fahrer für Firmen gesucht. Ich, ein ehemaliger Student der Wissenschaftstheorie, hielt mich nach dem Mauerfall als Kellner über Wasser. Doch nun waren wir Händler – auf den Tag genau seit zwei Monaten.

Im Osten wurde 1991 fast nur noch auf Marktplätzen gehandelt

Wir verkauften Kleidung im Osten des neuen Deutschlands. In unserem Freundeskreis waren wir die ersten „Kapitalisten“. In der DDR war die Ideologie allgegenwärtig gewesen, in der BRD war sie der Allmacht des Geldes gewichen, und wir sahen vorerst keinen Grund, in Opposition zu gehen.

Die Unterlagen: Im Kalender haben wir jeden einzelnen Verkauf eingetragen.
Die Unterlagen: Im Kalender haben wir jeden einzelnen Verkauf eingetragen.Berliner Zeitung/Jens Blankennagel

Wir waren jung genug, um das Neue nicht als Bedrohung anzusehen. Wir gaben uns den Verlockungen hin, den Möglichkeiten. Und Straßenhändler war der Job der Stunde. Denn der Zusammenbruch des Staates war inzwischen tief in den Alltag im Osten vorgedrungen. Überall wurden die Läden geschlossen, und die meisten Städte wirkten wie aus dem Mittelalter: Nur auf Marktplätzen wurde noch gehandelt.

An den Ständen dort wurde so gut wie alles verkauft: Jeans aus Indien, Obst aus Werder, Walkmans aus Japan, Teppiche aus der Türkei. Unter den Tapeziertischen gab es Drogen aus Holland, Pornos aus den USA und Makarow-Pistolen aus der Sowjetunion. Der Osten war ein ziemlich rechtsfreier Raum, es war die große Zeit der Straßenmärkte. Ein Eldorado für clevere Verkäufer.

Die Nacht der Nächte

Von Jens Blankennagel

09.11.2019

Wir waren nicht so clever, wie wir gehofft hatten. Dabei hatten wir gute Berater: Großhändler aus dem Mode-Center Berlin, das im Ullsteinhaus residierte und auf dessen Parkplatz wir nun mit unserem Bus rollten. In dem imposanten Backsteinbau orderten ganz normale Ladenbesitzer die Kleidung für ihre Geschäfte: teure Markenware oder Jeans, die fast wie Levis oder Wrangler aussahen, aber irgendwo östlich von Wien und westlich von Ankara billig genäht wurden.

Mein Bruder war Fahrer im Mode-Center, bis er vorschlug, es auf den Märkten selbst zu versuchen. Die Großhändler sagten: „Setzt auf Qualität. Nehmt kein billiges Zeug aus Indien, das angeblich im Hamburger Hafen aus einem Schiffscontainer gefallen ist.“ Dubiose Ware wollten wir nicht, deshalb sahen unsere Jeans aus wie Markenware, kosteten aber nur ein Viertel. Auf den Märkten jedoch suchten die meisten Kunden nach Billigjeans aus den Schiffscontainern. Leider.

Wie im Gangsterfilm: Ein Treffen am Ullsteinhaus mit echten Verkaufsprofis

Deshalb waren wir fast pleite. Und an jenem 12. August wollten wir endlich etwas kaufen, das uns vor dem Ruin bewahrt. Wir hatten uns mit echten Profis verabredet. Die kannten wir zwar nicht, aber dafür den Vermittler des Deals: ein befreundeter Türke aus dem Ullsteinhaus. Wir hatten ihm an jenem Morgen unser Leid geklagt, und er hatte ein paar Verwandte in Hamburg angerufen, mit denen wir am Telefon schnell handelseinig geworden waren. Die Hamburger versprachen, uns die Ware bis 22 Uhr auf den Parkplatz am Ullsteinhaus zu bringen.

Es war dann eine Szenerie wie in einem Gangsterfilm: Die Dämmerung legte sich über die Stadt, zwei unerfahrene Geschäftsmänner – wir nämlich – fuhren langsam über einen riesigen Parkplatz. Wie in Zeitlupe suchten sie nach ihren Geschäftspartnern. Doch der Parkplatz war leer. Kein Auto weit und breit, kein Mensch.

Wie alle Anfänger waren wir überpünktlich. Unsere Partner ließen sich Zeit, wie alle Profis. Wir rauchten und warteten. Niemand kam. Nicht nach einer Zigarette, nicht nach vier Zigaretten. Worauf hatten wir uns bloß eingelassen?

Immer wieder tastete ich über die ausgebeulte Tasche meiner Jeansjacke. Sie war voller Geldscheine. 1850 Mark frisch von der Bank und ein Scheck über 1000 Mark. Alles Westgeld. Ein kleiner Schatz. Jedenfalls für uns Ossis. Seit bald zwei Jahren lebten wir in einer neuen Zeitrechnung, die mit dem Mauerfall begonnen hatte. Seit knapp einem Jahr war das lang ersehnte Westgeld unsere neue Währung. Wir gingen noch recht ehrfürchtig damit um und kauften nicht irgendwelchen Mist.

Es waren unsere allerletzten Ersparnisse. Wir hätten davon 26 Monatsmieten für die Wohnung bezahlen können, die wir nach dem Mauerfall besetzt hatten. Doch wir wollten dafür 1000 hellblaue Blusen kaufen, die nicht allzu hübsch sein durften.

Wir waren bislang als Händler gescheitert, obwohl wir eine vorbildliche Arbeitsmoral hatten und morgens zeitig aufstanden, um auf einem Markt einen Stellplatz zu ergattern. Wir waren pünktlich, fleißig und höflich – und trotzdem erfolglos. Wir verkauften recht viel, aber nicht genug. Die Einnahmen reichten zwar fürs Benzin, für neue Ware und das Bestechungsgeld für die Männer, die die Standplätze auf den Märkten vergaben. Aber sie reichten nicht für ein billiges Pensionszimmer. Wir schliefen im VW-Bus.

Koks im Wohnwagen – aber nur für Geld

Unermüdlich fuhren wir durch den Osten, nach Aschersleben, Bernburg und Calau, nach Vetschau, Wriezen und Zwickau, an die Ostsee und die Müritz. Ständig neue Städte. All die Orte und auch manches Details wären längst vergessen, hätten wir nicht kürzlich die Steuerunterlagen gefunden, die wir im Januar 1992 erstellt haben – vor genau 30 Jahren.

Auf die Idee mit den Blusen waren wir nicht selbst gekommen. Es hatte eine Weile gedauert.

In Schwarze Pumpe wurden wir das erste Mal stutzig. Ein junger Mann kramte lange in unserem Hosenstapel, dann fragte er leise. „Haben Sie auch anderen Stoff?“ Es dauerte einen Moment, bis wir begriffen, dass er Drogen meinte.

Kurz danach standen wir in Spremberg neben einem Mann, der Frühstücksbrettchen mit eingebrannten Sprüchen verkaufte: „Komm rein, bring Glück herein“ oder „My Home is my Castle“. Ich fragte ihn: „Davon kannst du leben?“ Er schaute mir lange in die Augen, dann winkte er mich in seinen Wohnwagen und zeigte auf einen Karton. Ich öffnete ihn. Darin waren Pornos, Springmesser, Pistolen und Folientüten mit weißem Pulver. Er sah meine fragenden Augen und sagte: „Koks. Aber nur für Geld.“ Ich lehnte höflich ab und verließ den Wohnwagen, um ein paar Erkenntnisse reicher und ein paar Illusionen ärmer.

Nach 1989: Für kurze Zeit des freieste Volk der Welt

1991 war das Jahr der erodierenden Illusionen. Vorher waren wir für kurze Zeit  das freieste Volk der Welt gewesen: Die Mauer war gefallen, und dieses Glück war über Nacht gekommen, ohne einen Schuss. Der Machtapparat der allmächtigen Partei war fast geräuschlos implodiert, und die neue Macht war so sehr damit beschäftigt, die Einheit zu zimmern, dass 1990 zu einem wilden Jahr wurde – wie ein Abenteuerurlaub: das erste Westgeld, das erste Westauto, die erste Westreise.

Doch inzwischen war 1991, und die Euphorie war längst der Ernüchterung gewichen. Realität statt Revolution. Die Treuhand hatte mehr Macht als die Landesregierungen, und am Ende des Jahres waren im Osten sechs der zehn Millionen vormals Erwerbstätigen arbeitslos, in Umschulungen oder unterbeschäftigt.

Fast alle im Osten bekommen in jenem Jahr ihre erste Mieterhöhung

Als wir in jenem Sommer über die Märkte zogen, bekamen fast alle im Osten ihre allererste Mieterhöhung – oft ging es um 100 Prozent nach oben. Existenzängste griffen um sich und viele hatten kein Geld mehr übrig, nicht mal für Schnäppchen. Auf den Märkten jammerten nun selbst die erfolgreichen Händler.

Nur einer jammerte nicht: der Nürnberger, der erfolgreichste Händler, den wir je getroffen haben. Ein Bayer wie aus dem Fernsehen: dicker Bauch, Lederhose, breiter Dialekt. Sein Verkaufsstand war in jeder Stadt der größte. Und was verkaufte er? Nicht etwa schöne West-Klamotten wie wir, sondern die hässlichsten Ost-Kleidungsstücke, die wir kannten: blaue Arbeitsanzüge aus China und buntgeblümte Kittelschürzen aus Dederon, dem DDR-Nylon.

Der Bayer kannte die Kraft von Traditionen. Lange, bevor die Ossis erkannten, dass sie ein paar Dinge aus der DDR doch gar nicht so schlecht fanden, machte der Mann aus dem Westen bereits Geschäfte mit dem Phänomen, das später als Ostalgie in die Geschichte einging.

Er erzählte uns, dass er eine Lagerhalle voller Schürzen und Arbeitsanzüge aufgekauft hatte. Er war Monopolist. Als überall die Mieterhöhungen eintrafen, ging auch bei ihm der Umsatz zurück. „Aber nur um die Hälfte“, sagte er. Seine Diagnose war eindeutig: Die Ossis waren von der Mietsache so überrumpelt, dass sie glaubten, gleich käme der nächste Zusammenbruch. Bei ihm konnten sie sich für den Notfall eindecken. Tatsächlich waren die Schlangen bei ihm lang.

Und was wollten die Leute hier? Den Osten

Er riet uns, etwas anzubieten, das nicht zu neumodisch war. „Wo sind wir hier?“, fragt er und gab selbst die Antwort: im Osten. Und was wollen die Leute hier? Den Osten – auch wenn sie es nicht zugeben. Den Westen kennen sie inzwischen ein wenig und holen ihn sich bei Bedarf aus dem Katalog. Aber auf ihrem Marktplatz wollen sie etwas Vertrautes. Es soll praktisch sein und preiswert, sagte der Bayer, aber nicht billig. „Am besten pastellfarben und hausfrauentauglich.“

Die Blusen: Sehr aufwändig und teuer verpackt, aber nicht sehr schön. Der asymmetrische Kragen ist fast etwas gewagt. 
Die Blusen: Sehr aufwändig und teuer verpackt, aber nicht sehr schön. Der asymmetrische Kragen ist fast etwas gewagt. Berliner Zeitung/Jens Blankennagel

Ein Anruf genügte. Am Telefon fragten wir unseren Geschäftspartner in Hamburg, ob die Blusen auch wirklich unscheinbar seien und nicht zu hübsch. Er versicherte, dass sie fast ein wenig hässlich seien. Wir fragten, ob seine Mutter sie trotzdem kaufen würde. Er sagte: „Ja.“ Damit war der Deal perfekt – und 1000 pastellblaue Blusen rollten an jenem 12. August nach Berlin.

Kurz vor 23 Uhr fuhren zwei schwarze BMW mit verdunkelten Scheiben auf den Parkplatz am Ullsteinhaus. Drei Männer stiegen aus. Wir begrüßten uns mit Handschlag und rauchten erst mal gemeinsam Zigaretten. Schweigend. Dann öffneten sie die Autotüren und blaue Müllsäcke voller hellblauer Blusen fielen heraus. Wir haben nie nachgezählt, ob es tatsächlich 1000 Stück waren. Aber wir gaben ihnen unser letztes Westgeld.

Die Blusen waren nicht nur fast ein wenig hässlich. Aber sie waren sehr aufwändig verpackt - mit Seidenpapier und jede in einer Folie mit dem Aufdruck „Top-modische Damenbluse“. In jeder Folie steckte eine kleine Glückwunschkarte mit den Worten: „Compliment, Madame! Sie haben sich für eine elegante Bluse von Feliciani entschieden. Feliciani steht für internationalen Chic in exzellenter Paßform.“

Der Rest ist schnell erzählt: Wir fuhren zum legendären Markt in Altenburg, dort waren die Umsätze besonders hoch. Auf der Hinfahrt ging unser Bus kaputt und der Abschleppdienst stellte uns vor die Alternative: zurück nach Berlin oder nach Altenburg. Wir entschieden uns für Altenburg. Wir wollten dort das Geld für die Reparatur verdienen.

Die Steuererklärung – und eine gelbe Kladde vom Arbeitsamt

Unsere Blusen waren ein Hit. Der Bayer und die Hamburger hatten recht. Fast zumindest. Leider zeigte sich, dass unsere Hamburger Freunde nicht in allen Bereichen Profis waren. Es gab zwar viele Frauen, die uns für diesen schlichten Traum in Pastell zehn Mark zahlen wollten, und die Frauen waren auch – wie vorhergesagt – etwas älter. Doch keine von ihnen passte in eine unserer 1000 Blusen. Die Jungs aus Hamburg hatten uns fast nur eine einzige Konfektionsgröße angedreht – aus dem Schiffscontainer war ausgerechnet eine Größe gefallen, in die nur sehr schlanke Frauen um die 20 passten.

Wir verkauften vier Blusen. Damit war unser kleiner kapitalistischer Traum vorbei. Wir hatten kein Geld für den Bus, nur 996 Blusen, die wir in Kisten im Keller stapelten. Wir machten unsere Steuererklärung. Auf dem Zettel von damals ist das Ergebnis doppelt unterstrichen – Verlust: 4131,02 Mark.

Beim Arbeitsamt bekamen wir eine gelbe Kladde, die ich noch immer besitze. Wir schrieben den Januar des Jahres 1992, doch auf der Kladde waren nicht etwa die Umrisse des vereinten Deutschlands abgedruckt, sondern noch immer die der alten Bundesrepublik. Mit Bleistift malte ich die neuen Länder dazu.

Mein Bruder machte eine Umschulung zum Betriebswirt und ist seit langem ein erfolgreicher Großhändler für „weiße Ware“ in München: Er verkauft Waschmaschinen und Kühlschränke an Handelsketten. Ich studierte noch mal, wurde Journalist und schreibe ab und an auch Geschichten aus längst vergangenen Zeiten auf. Was aus unseren 996 Blusen wurde, ist eine andere Geschichte.