Inflation

Prognose: Energiekrise wird für jeden Dritten zur „existenziellen Frage“

Der Deutsche Städtetag befürchtet eine Zerreißprobe für die Gesellschaft und fordert einfache, schnelle Lösungen. Die Krise sei nach dem Winter nicht vorbei.

Eine Langzeitbelichtung zeigt Menschen in Frankfurt am Main. 
Eine Langzeitbelichtung zeigt Menschen in Frankfurt am Main. dpa/Boris Rössler

Die Energiekrise wird für mindestens ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland zu einer existenziellen Frage. Davon geht der Deutsche Städtetag aus. „An diese Menschen müssen wir zuerst denken“, sagte Vizepräsident Ulf Kämpfer am Dienstag in Berlin. Der Kieler Oberbürgermeister rechnet zudem damit, dass wegen der drastisch steigenden Lebenshaltungskosten erheblich mehr Menschen als bisher die Kriterien erfüllen werden, die sie berechtigen, Wohngeld zu beantragen.

Ebendieses Wohngeld, ein Bonus auf das Kindergeld und die Möglichkeit von Ratenzahlungen bei Energiekosten könnten für Entlastung in der akuten angespannten Lage sorgen, sagte Kämpfer. Außerdem sei ein „großes Instrument“ erforderlich, um soziale Härten abzumildern, etwa ein Energiepreisdeckel. Auf „drei, vier zentrale Maßnahmen“ müssten sich Bund und Länder verständigen.

Vor allem müssten die Verantwortlichen nun rasch handeln, forderte Städtetag-Präsident Markus Lewe, „und nicht immer wieder neue Modelle entwickeln“. Denn: „Wir haben eine Situation, die man als multiple Mangellage bezeichnen kann.“ Zu der Energiekrise würden die Belastungen durch die Corona-Pandemie kommen. Außerdem litten die deutschen Kommunen an einem Mangel an Personal. „Wir brauchen klare Antworten“, sagte Lewe, der Oberbürgermeister in Münster ist. „Ich habe Sorge, dass die Energiekrise zu einer Zerreißprobe für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird.“

Klare Antworten hat der Städtetag für sich bereits formuliert: Die Kommunen sollen 20 Prozent Gas einsparen als Reaktion auf eingeschränkte Lieferungen aus Russland. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns seit dem 24. Februar mittelbar in einem Krieg befinden“, sagte Lewe. Am 24. Februar hatte die russische Invasion in die Ukraine begonnen. Die Folgen des militärischen Konflikts würden weit über den kommenden Winter hinauswirken und auch noch die Kälteperiode 2023/2024 betreffen, prognostizierte der Kommunalpolitiker.

Städtetag: 20 Prozent weniger Gasverbrauch reichen vielleicht nicht aus

Sein Vize Kämpfer geht davon aus, „dass wir diese 20 Prozent einsparen können, ohne dass sich das Leben der Menschen fundamental ändert. Wir müssen aber abwarten, ob diese 20 Prozent reichen. Wir werden flexibel bleiben müssen“, sagte der Kieler.

Damit sich die akute Lage nicht weiter verschärft, fordert der Städtetag Bund und Länder auch dazu auf, die kommunalen Stadtwerke finanziell abzusichern. „Wenn Stadtwerke in eine existenzielle Schieflage geraten, dann drohen alle Leistungen der Daseinsvorsorge in den Städten abzurutschen, wie Wasser, Abwasser, Müllentsorgung und ÖPNV“, sagte Lewe. Dringend erforderlich sei es daher, die geplante Gasumlage zu modifizieren. Sie müsse, so Lewe, auch bei Festpreisverträgen und Fernwärme von den Kunden erhoben werden können. Stadtwerke müssten in Vorleistung gehen und blieben auf den Kosten sitzen.

Die Bevölkerung hierzulande wird mitziehen, davon sind die Funktionäre des Deutschen Städtetags überzeugt. Vize Kämpfer sieht sich in dieser Ansicht durch seine Erfahrungen aus der Corona-Pandemie bestärkt. „Mein Eindruck ist, dass viele Menschen zur Solidarität bereit sind“, sagte er, allerdings: „Die soziale Abfederung ist zentral.“