Der Küchenchef ist zufrieden. Dass es ein guter Tag werde, wusste Heiko Borreé bereits, als er in der Vorwoche Jägerschnitzel mit Nudeln und Tomatensoße zu je 4,40 Euro auf den Speiseplan gesetzt hatte. Mit 200 Portion hatte er kalkuliert und dafür an diesem Morgen alles in der Küche vorbereitet. Doch schon bald war klar, dass das nicht reichen würde. „Wir mussten 80 Portionen nachschieben“, sagt Borreé. Fingerdicke Jagdwurst-Scheiben selbst paniert. „Fast wie in alten Zeiten.“
Heiko Borreé hat sich im großen Speisesaal der Polizeikantine Marzahn einen der stabilen Holzstühle zurechtgeschoben und an einen der etwa zwei Dutzend Tische gesetzt. Dass er froh ist, endlich sitzen zu können, sagt er nicht. Aber man sieht es ihm an. Der Koch ist seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Es ist Nachmittag. Der letzte Gast hat eben erst seinen Teller in die Geschirrabgabe gebracht. Die Schlacht ist vorüber. Auf Borreés zweireihig geknöpfter Kochjacke sind noch die Spuren des Jagdwurst-Gemetzels zu sehen. Diesmal hat er gewonnen. So, wie er es gehofft hatte.
Die Polizeikantine Marzahn Direktion 3, die von einem privaten Pächter geführt wird, befindet sich tatsächlich in einem Flachbau neben einem Polizeirevier an der Märkischen Allee im Osten der Stadt. Hierher hat sich noch nie ein Gastro-Kritiker verirrt. Die öffentliche Kantine ist auch in keiner To-do-List von Stadt-Führern für Berlin-Besucher zu finden. Dennoch ist sie über die Gegend zwischen Helene-Weigel-Platz und East-Gate-Center hinaus eine Institution. War sie nie nur Versorger, sondern auch sozialer Treffpunkt, so ist sie in Zeiten galoppierender Inflation, in denen explodierende Preise den sicher geglaubten Boden erodieren lassen, für viele der vielleicht letzte verlässliche Posten.
Über Jahre hat es die Polizeikantine mit gutem Essen, kleinen Preisen und DDR-Nostalgie à la carte zu großer Beliebtheit gebracht. Borreé, der einst bei der Mitropa in Frankfurt (Oder) sein Handwerk gelernt hat, beschreibt das Speiseangebot als „gutbürgerliche Hausmannskost ohne Schnickschnack“, meint neben der panierten Jagdwurst natürlich auch den Blutwurst-Klassiker mit Sauerkraut und weiß, dass es schmeckt. „Die Leute essen ihren Teller ja nicht aus Langeweile leer.“
Wegen der Teuerung hat sogar „Tote Oma“ den Bestseller-Status verloren
Michael Knappe, ein großer Mann mit mächtigen Händen, will da nicht widersprechen. Der 62-jährige Taxi-Fahrer steuert die Polizeikantine fast täglich an. „Es schmeckt, es sind Portionen, von denen man satt wird, und es ist günstig“, sagt er, während er das Besteck auf seinen leeren Teller legt. „Was du hier kriegst, bekommst du nirgendwo für weniger als zehn Euro.“
Drei Gerichte bietet die Kantine jeden Tag. Ein Eintopf kostet 2,80 Euro, ein Essen mit Kartoffeln und Gemüse 4,40 Euro. Für das teuerste Gericht werden 6,60 Euro verlangt. An diesem Tag war es Putenbraten mit Rotkohl. Dass der Braten gegen das Jägerschnitzel keine Chance hatte, ist für Küchenchef Borreé keine Überraschung. Er weiß, dass für sehr viele Gäste der Preis die wichtigste Größe ist. Vor allem für die Senioren aus der Nachbarschaft. „Die meisten kommen allein und sind froh, hier mal quatschen zu können“, sagt Borreé. Einige kämen jeden Tag und würden immer Eintopf bestellen. „Es werden mehr“, sagt er. Wenigstens 80 Prozent der Gäste sind Stammkunden.

Borreé, selbst gerade erst 60 geworden, ist seit 28 Jahren Koch in der Polizeikantine. Küchenchef wurde er dort vor sieben Jahren. Das seien noch die besseren Zeiten gewesen, sagt er und erzählt von Tagen, an denen man warten musste, um einen Sitzplatz zu bekommen, und die Schlange vor der Essenausgabe bis weit in den Gastraum reichte. Dann kam Corona. Die Seuche hat die Kantine schwer getroffen – erst die Lockdowns, dann die Scheu der Leute vor der Nähe zu anderen Menschen. Unter dem Strich hatte die Kantine dadurch die Hälfte der Kunden verloren und nur einen kleinen Teil zurückgewonnen. Denn auch in der Küche der Polizeikantine bekam man die allgemeinen Teuerungen zu spüren.
Zweimal musste Borreé die Preise bislang schon anheben. War vor Corona zum Beispiel Bratwurst mit Salzkartoffeln und Sauerkraut noch für 2,90 Euro zu bekommen, so steht das Gericht heute für 4,40 Euro an der Tafel neben dem Kantinentresen. So viele kostete lange Zeit das teuerste Gericht des Speiseplans.
Allein für Gemüse zahle der Küchenchef heute 30 Prozent mehr. Der Preis für Kilo Jagdwurst verdoppelte sich binnen eines Jahres, der für Blutwurst stieg um 50 Prozent. Borreé muss das dazugehörige Gericht heute für 6,60 statt 4,40 Euro anbieten, weshalb „Tote Oma“ sogar ihren über viele Jahre behaupteten Besteller-Status abgeben musste. Zudem verlangen Lieferanten immer öfter teure Lieferpauschalen, weil die Bestellmengen geringer ausfallen. Und natürlich, so Borreé, wollen auch die Mitarbeiter mehr verdienen, weil sie sich ebenfalls mindestens vor der nächsten Heizkostenrechnung fürchten. Von einst sieben Angestellten sind noch vier geblieben.
Borreé ist längst klar, dass er demnächst abermals die Preise anheben muss und hat „Schiss“ vor der Entscheidung. Einerseits geht es um das Überleben der Kantine und die Verantwortung für die Jobs. Andererseits: „Es tut weh, zu wissen, dass sich einige unserer Kunden ein Essen bei uns dann vielleicht nicht mehr leisten“, sagt er und denkt vor allem an Senioren. Für einige sei die Kantine auch ein Begegnungsort. Manche säßen ein bis eineinhalb Stunden zusammen und sie bekommen eine warme Mahlzeit.
Brunhild Jäckel würde es jedenfalls bedauern, wenn sie nicht mehr mit der Marzahner Kantine rechnen könnte. Sie kommt regelmäßig aus Friedrichsfelde an die Märkische Allee und schätzt vor allem das Szegediner Gulasch für Preis und Geschmack. „Dafür kann man es nicht selber kochen“, sagt die 72-jährige Rentnerin. Täglich immer weniger.

Auch für Taxi-Fahrer Knappe wäre es ein Schlag. Er könne zwar verstehen, wenn die Preise angehoben werden, ob er sich das dann noch leisten kann, wisse er aber nicht. Der Ur-Berliner fährt seit 20 Jahren Taxi und spürt die Inflation freilich selbst. „Wenn alles teurer wird, wird weniger Taxi gefahren, ist doch klar“, sagt er. Um 30 bis 40 Prozent seien seine Tagesumsätze zurückgegangen.
Knappe ist 62 Jahre alt und könnte eigentlich in Rente gehen, wie er sagt, aber er könne es sich nicht leisten. Weit weniger als 1000 Euro würde er bekommen. Also fährt er weiter Taxi und hofft, dass er sich die Spritkosten leisten kann. Er hat gerade erst seine Konzession für weitere fünf Jahre verlängern lassen. Wie lange er tatsächlich fährt, sei offen, sagt er bitter. Dann macht er eine Pause und sagt: „Ich will von Politikern nicht jeden Tag hören, dass alles noch schlimmer kommen wird. Ich will Lösungen.“



