Kolumne

Olaf Scholz darf Cum-Ex vergessen, Aiwanger wird aber nichts verziehen

Die Kritik an Hubert Aiwanger ist übertrieben hart und folgt der Logik der Doppelstandards, schreibt unser Kolumnist.

Kann sich an vieles aus seiner Schulzeit nicht mehr erinnern: Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger.
Kann sich an vieles aus seiner Schulzeit nicht mehr erinnern: Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger.Tobias Schwarz/AFP

Und Jesus sprach: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Gemach, nicht alle auf einmal. Immer schön der Reihe nach. Wohlan, zuerst ist der Kanzler dran.

Im Fall Aiwanger dürfe nichts „vertuscht oder verwischt“ werden, fordert Olaf Scholz – kurz nachdem er selbst wieder mal wegen uneidlicher Falschaussage im Warburg-Skandal angezeigt worden ist. Selbstironie? Mit den gegen ihn vorliegenden Indizien muss er sich gegen den bayerischen Volkstribun keineswegs verstecken. Aber selbstverständlich vertuscht oder verwischt Scholz keine Absprachen mit Cum-Ex-Bankern. Er kann sich nur nicht erinnern. Alles ist ja schon sechs Jahre her und nicht erst, wie bei Aiwanger, 35.

So, nun darf Katharina Schulze ihre Schamottklamotte wider den Delinquenten schleudern. Empörung über die üble Jugend des Wahlkampfkonkurrenten hat die bayerische Grünen-Spitzenkandidatin zwar schon reichlich freigesetzt, aber genug ist nicht genug. Schließlich ist klar, wie gefährlich es wird, wenn infantile Hemmungslosigkeit in die Volljährigkeit schwappt.

Noch im Dezember 2021 bettelte Schulze vor dem Münchner Landtag um „eine Verschärfung der Kontaktbeschränkungen der ungeimpften Erwachsenen“ und „dass der Handel endlich für Ungeimpfte geschlossen wird“. Damals wusste jeder, der es wissen wollte, dass Spritzen bestenfalls Selbstschutz sind und die Virenverbreitung nicht verhindern. Die Gute war nicht 17, sondern 36 Jahre alt, also, von der Papierform her, erwachsen. Einige Jahre zuvor hatte sie definiert, Rechtsradikale erkenne man an „einer aktiven Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen“. Lustig, was?

Einer politischen Laufbahn ist es wenig zuträglich, im stillen Kämmerlein zu reflektieren, was man tagsüber so zusammenplappert. Nachdenkliche Menschen bringen es selten weit in Apparaten. Wer sich dennoch befragt und zu verstörenden Antworten gelangt, lässt sich besser nichts anmerken. Es ist faszinierend, wie inbrünstig große Teile des politisch-medialen Komplexes „Demut“ samt „Reue“ von Aiwanger erwarten. Das wirkt, als solle er nebenbei ihre perfide Seuchenbekämpfungspropaganda mitbewältigen, unter deren Folgen die Gesellschaft noch heute mehr leidet als am Inhalt seiner Schultasche.

Ah, hier drängelt ein hibbeliger Herr, auch noch sein Trümmerteil abzusondern. Na dann. – Karl Lauterbach twittert auf X: „Schon seine Verschwörungstheorien als radikaler Impfgegner hat @HubertAiwanger für mich als ernsthaften Politiker völlig diskreditiert. Sollte er der Verfasser des menschenverachtenden ‚Ausschwitz-Pamphlet‘ sein, muss er zurücktreten.“ (sic!) Fürwahr, das muss ein ernsthafter Politiker sein, der Auschwitz buchstabiert wie eine Familiensauna. Der einen mRNA-Geimpften als radikalen Impfgegner bezeichnet. Der selbst der Inbegriff des in mannigfaltiger Hinsicht Diskreditierten ist. In einem Staat, wo eine solche Gestalt noch immer ein hohes Amt bekleidet, existieren quasi keine Rücktrittsgründe. Will Harald Schmidt wirklich ans satirische Metaebenenlimit gehen, lässt er sich mit Lauterbach fotografieren.

Vom Berg predigte Jesus: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge.“ Oder, für Ungläubige: Wer im Glashaus sitzt, möge nicht mit Steinen werfen, zumal wegen der Energiekosten die Glasproduktion sehr teuer ist.

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