In Mexiko war Mittag, in Berlin schon Abend, kurz nach 21 Uhr am Sonnabend, als María ihren Eltern eine Nachricht im Familienchat schrieb. Wie geht es meinem Hund?, wollte sie wissen. Den kleinen Mischling Luna hatte sie adoptiert, bevor sie nach Berlin gezogen war. Ihre Eltern schickten ihr Fotos auf WhatsApp. Luna mit einer Mütze auf dem Kopf, ihre braunen Knopfaugen gucken in die Kamera. María aber antwortete nicht mehr.
Der Vater zeigt den Chat auf dem Handy. Den letzten Kontakt. Sechs Tage sind vergangen. María Fernanda Sánchez Castañeda, die ihre Eltern Mafer, ihre Freunde Maffy nennen, wird seit dem 22. Juli. in Berlin vermisst. Die 24-Jährige ist seit diesem Tag spurlos verschwunden.
Ihre Eltern stehen am Freitag vor dem Studentenwohnheim in Berlin-Adlershof, in dem ihre Tochter ein Zimmer gemietet hat. Es ist kühl und es regnet, „das Wetter ist etwa so wie im März, als wir sie herbrachten“, sagt Carolina Castañeda, die Mutter. Sie lächelt, als sie sich daran erinnert: María war endlich in der Stadt, in der sie leben wollte, seit sie vor fünf Jahren für einen Schüleraustausch für einige Wochen hergekommen war. Sie hatte ein Zimmer. Und einen Platz an der University of Europe for Applied Sciences. Ihre Eltern waren erleichtert. „Sie ist hier in Sicherheit, dachten wir“, sagt Javier Sánchez, der Vater. Mexiko ist ein gefährliches Land, besonders für junge Frauen, Überfälle und Entführungen gehören zum Alltag. Aber nun war Mafer ja in Berlin.

Es war das letzte Mal, dass sie ihre Tochter in den Arm nehmen konnten. Gesehen haben sie sich weiter, jeden Sonntag im Videochat, erzählen die Eltern. Bis ihre Tochter am letzten Sonntag nicht mehr an ihr Handy ging.
Seit Sonnabend hat auch keiner ihrer Freunde aus Berlin María gesehen oder Kontakt mit ihr gehabt. Seitdem ist ihr Studentenheim zu einer Art Stützpunkt geworden – für ihre Freundinnen und Freunde, die Suchtrupps in den nahe liegenden Wäldern, Parks und anderen Naturgebieten koordinieren, für die freiwilligen Helfer, die sich der Suche anschließen, und nun auch für ihre Eltern. Auf dem Kaffeetisch im Foyer des Wohnheims, an dem Javier Sánchez von seiner Tochter erzählt, steht eine Schüssel Kirschen, daneben liegen Kekse und der Ausdruck eines Satellitenbilds von der Umgebung. Ein Gewirr aus roten Linien darauf zeigt, wo am Donnerstag nach María gesucht wurde. Ohne auch nur eine Spur von ihr zu finden.

Etwa zehn Stunden nachdem er seiner Tochter die Fotos von der Hündin Luna geschickt hatte, meldete sich Javier Sánchez erneut bei ihr, es war kurz vor 8 Uhr in Berlin. „Guten Morgen, wie geht es dir?“, schrieb er. Als sie auch da nicht antwortete, wusste er, dass etwas nicht stimmte. „Wir haben einander jeden Tag geschrieben“, sagt Sánchez – so eine Funkstille sei extrem außergewöhnlich. Er habe sofort die Polizei in Berlin angerufen, sagt er. Aber er spricht kein Deutsch, am anderen Ende der Leitung sprach niemand Spanisch oder Englisch. „Das war schwierig.“ Er habe dann versucht, seine Tochter über ein Onlineformular vermisst zu melden.
Am Montagmorgen habe er die Rezeption im Wohnheim seiner Tochter erreicht und eine Mitarbeiterin gebeten, die Tür zu ihrem Zimmer im Erdgeschoss zu öffnen. Das Zimmer war leer, die Tür zum Innenhof stand offen. Auf dem Bett lag das Handy seiner Tochter. So habe es die Mitarbeiterin des Wohnheims berichtet. Javier Sánchez beschloss, sofort nach Berlin zu fliegen. Seine Frau sagte, sie komme mit.

Sánchez hatte auch die mexikanische Botschaft in Berlin kontaktiert, die in ihren Social-Media-Kanälen auf den Fall aufmerksam macht. Der mexikanische Botschafter, Francisco Quiroga, empfing die Eltern direkt nach ihrer Ankunft in Berlin und hält täglich Kontakt zur Polizei, erzählt Sánchez.
150 bis 155 cm groß
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Die Unterstützung der Lateinamerikaner in Berlin für die Familie ist groß. Ein Netzwerk von Frauen koordiniert nicht nur die Suche, eine Frau hat auch die Eltern bei sich zu Hause aufgenommen. Am Freitag treffen immer wieder junge Leute am Studentenwohnheim ein, die María nicht kannten, aber helfen wollen, sie zu finden. „Unsere Engel“, nennt Sánchez die Helfer.
Inzwischen sei auch sein Kontakt mit der Berliner Polizei besser geworden, sagt der Vater. Am Mittwoch habe er auf einer Wache Informationen zu den bisherigen Suchmaßnahmen und Ermittlungen erhalten, am Donnerstag konnte er mit dem Beamten sprechen, der mit dem Fall seiner Tochter betraut worden ist. Aber er wünscht sich mehr von der Polizei. „Sie machen ihren Job, aber die zuständige Abteilung ist offenbar klein“, sagt er.
Am Montag wurden Polizeihunde eingesetzt, die die Spur einer vermissten Person zwei bis drei Tage lang zurückverfolgen können, habe er erfahren, das habe wohl nichts gebracht. Es braucht dringend mehr, findet Javier Sánchez. „Wir flehen die Polizei um mehr Beamte an, die nach ihr suchen“, sagt er. Er verschränkt die Hände vor sich.
Auf Anfrage der Berliner Zeitung teilt ein Sprecher der Berliner Polizei mit, dass alle bisher eingegangene Hinweise keine Informationen zu María und ihrem Aufenthaltsort enthalten hätten. Aber die Suche geht weiter; seit Donnerstag suchen Ermittlerinnen und Ermittler „örtlich in Frage kommende Gewässer“ ab, dabei werden sie von Spürhunden und Tauchern unterstützt. Marías Handy und andere technische Geräte werden noch ausgewertet. „Jeder ernst gemeinte Hinweis wird bearbeitet“, so der Polizeisprecher.

Sánchez versteht die Aussage in der polizeilichen Vermisstenanzeige zu seiner Tochter nicht, es habe Hinweise gegeben, dass sie sich in einer „psychischen Ausnahmesituation“ befinde. Alles schien bei ihr in Ordnung zu sein; das sagen auch Marías Freundinnen, mit denen sie am Freitagabend in Kreuzberg feiern war. „Da geht es wahrscheinlich darum, dass ihr vielleicht ihre Familie, ihre Heimat sehr gefehlt hat“, vermutet er. „Aber das ist ganz normal für Menschen, die weit weg von zu Hause leben.“
Später am Freitagnachmittag bedankten sich die Eltern in einer über die mexikanische Botschaft verbreiteten Mitteilung bei denen, die ihnen bisher bei der Suche nach ihrer Tochter geholfen hatten. Aber sie betonten zugleich, dass „bestimmte Informationen“ zum Verschwinden ihrer Tochter vertraulich bleiben müssen. Um die Privatsphäre ihrer Familie zu schützen, aber auch um die polizeilichen Ermittlungen nicht zu verhindern.
Javier Sánchez schildert allerdings seine Tochter als eine junge Frau, deren Leben in Bewegung war. Sie suchte ein neues Wohnheimzimmer in einem zentraleren Stadtteil, sollte am Freitag ein Projekt aus ihrem Kurs in einer Ausstellung vorstellen, hatte nächste Woche ein zweites Vorstellungsgespräch für eine Teilzeitstelle bei Amazon. Sie hat sich erst vor einigen Wochen ein Fahrrad gekauft. Es steht noch auf dem Hof des Wohnheims. Sánchez zeigt auf seinem Handy ein Video: An einem sonnigen Tag läuft seine Tochter auf Zehenspitzen über einen Baumstamm am Ufer eines Berliner Sees. Sie strahlt. Er und seine ganze Familie könnten sich nicht erklären, wie Mafer so plötzlich verschwinden konnte.

Am Donnerstagabend hat Javier Sánchez stundenlang mit mexikanischen Medien gesprochen. Er schätzt, von 21 Uhr bis 3 Uhr morgens sieben Interviews gegeben zu haben, trotz des Zeitunterschieds von acht Stunden. In Mexiko bewegt die Geschichte der verschwundenen Studentin die Menschen, sie ist in den Schlagzeilen, wird tausendfach auf Social Media geteilt.



