Berlin-Kreuzberg

Kotti-Wache in Kreuzberg: Als die Polizei der neue Nachbar wurde – Bilanz nach sechs Monaten

Im Hauruckverfahren wurde die Wache am Kottbusser Tor geplant und im Februar eröffnet. Ein halbes Jahr später sind nicht alle mit dem neuen Nachbarn glücklich. 

Polizeiwagen am Kottbusser Tor in Berlin am 2. August 2023
Polizeiwagen am Kottbusser Tor in Berlin am 2. August 2023Emmanuele Contini

Ein Polizist führt einen Mann Anfang 20 am Kottbusser Tor in Handschellen ab und gleich vor Ort ein paar Treppenstufen hinauf. Schließlich steht hier seit einem halben Jahr eine Polizeiwache. Das Café Kotti und die Polizeistation teilen sich den Treppenaufgang.

Anstatt dass der Polizist den jungen Mann jedoch auf direktem Wege in die Wache führt, hält er bei der Kellnerin an und fragt sie: „Darf er mal kurz bei euch auf die Toilette?“ Er darf. 

Die Kellnerin soll hier Jule heißen, weil sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Bis heute weiß sie nicht, warum der Polizist den Mann in Handschellen nicht auf das Polizei-Klo gehen lassen wollte. Sie erzählt von dieser Szene im Café Kotti, sitzt auf zwei rustikalen Holzstühlen an einem kleinen, runden Tisch mit weißer Marmorplatte. Der Blick über das Kottbusser Tor ist von hier aus am besten. Der kleine blaue Schirm mit dem Schriftzug „Flensburger Pilsner“ schützt sie vor der prallen Sonne an diesem Augusttag.

Jule arbeitet seit drei Jahren im Café Kotti. Ein Minijob, um während ihres Studiums etwas Geld zu verdienen. Seit ihrer Geburt vor 23 Jahren lebt sie in Kreuzberg 36. Das Kotti war und ist Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Sie hat sich hier immer gern aufgehalten, sie sagt, sie fühle sich sicher hier. Sie weiß auch, wie sie mit unangenehmen Situationen umgehen muss.

Das Café Kotti wiederum ist wie eine Insel an diesem Platz. Jule nennt es sogar einen „Safe Place“ für alle Menschen im Kiez. So sei das, seit sie denken kann. „Ich habe einen guten Chef und gute Leute um mich herum.“ Das sei wichtig, weil das Café eben direkt am Kotti liegt. Und Stress von außen gibt es immer wieder: Mal streiten sich Gästen, mal gerät sie mit jemandem aneinander, aber Gewalt hat sie nie erlebt. Na klar, es gibt Leute, die hierherkommen, nachdem sie zwei Nächte durchgemacht haben, aber es kommen auch Nachbarn aus dem Hochhaus, Leute aus dem Kiez vorbei. „Die meisten wollen einfach nur ein Bier trinken.“

Cafés am Kottbusser Tor: Seit Eröffnung der Polizeiwache Umsatz eingebüßt

Jetzt also die Wache direkt neben dem Café. Das Thema ist schwierig für sie. Denn natürlich weiß auch sie, dass der Kotti ein sozialer Brennpunkt und Kriminalitätsschwerpunkt war. An dem Verkehrsknotenpunkt, an dem die U-Bahnlinien 1 und 3 auf die U8 treffen, hat sich die Drogenszene massiv ausgebreitet. Um die Kriminalität einzudämmen, hat Innensenatorin Iris Spranger am 15. Februar, vor einem halben Jahr, eine neue Polizeiwache eröffnet, in der ersten Etage im Hochhaus „Zentrum Kreuzberg“. Die Kotti-Wache, wie sie alle nennen, ist eine Nebenwache des Abschnitts 53. Jetzt, ein halbes Jahr nach der Eröffnung, fragen sich viele: Ist die Wache ihre 3,4 Millionen Euro Kosten wert?

Wenn Jule über die Kotti-Wache spricht, benutzt sie oft Wörter wie einerseits und andererseits. So gab es lange Zeit Sicherheitspersonal vor dem Eingang des Cafés, das sei jetzt nicht mehr nötig. Allerdings hat das Café Kotti seit der Eröffnung der neuen Polizeiwache viel Umsatz eingebüßt. Das liegt auch daran, dass das Café wegen neuer Regelungen nur noch etwa ein Drittel seiner Stühle draußen hinstellen darf. „Früher hatten wir die ganze Terrasse für uns allein.“ Sie beschreibt die Atmosphäre, wenn abends alle Gäste draußen unter riesigen Schirmen saßen und auf den belebten Platz schauten. Jetzt stehen wegen der Brandschutzbestimmungen nur noch kleine Schirme auf der Terrasse. 

Auch der Inhaber des nahe gelegenen Imbisses Toast’cu musste seine Tische reduzieren, seit er die Polizei als Nachbarn hat. „Die Tische hatten immer ihren festen Platz draußen“, sagt er. Auch darf er seit einem halben Jahr nicht mehr seine Einkäufe ein- und ausladen über die Rampe. Er trägt seine Ware jetzt mit den Händen über den Hintereingang in den Laden. Zumindest blieb sein Umsatz stabil, die Leute bestellen ihr Essen einfach to go. „Vielleicht“, sagt er, „liegt es auch daran, dass sie nicht gern auf die Mannschaftswagen der Polizei schauen.“

Mahmut arbeitet seit 35 Jahren im Schnellrestaurant Lezzet Grill direkt gegenüber vom Imbiss und vom Café. Auch bei ihm ist die Zahl der Gäste zurückgegangen. Er findet das aber gar nicht so schlecht: „Ständig sind wir beklaut worden und häufig wurden die Spielautomaten leer geräumt.“ Das habe letztlich den Umsatz stark beeinflusst. Mahmut erzählt von Schlägereien und Ärger mit Süchtigen in seinem Laden. „Ich habe einfach viel weniger Stress als früher.“ Der Laden sei finanziell vorerst auch nicht bedroht.

Café Kotti: Weniger Stress, aber auch weniger Kunden

Jule aus dem Café Kotti ist aufgefallen, dass einige Stammkunden nicht mehr wiedergekommen sind. „Sie möchten nicht auf eine Polizeiwache schauen“, sagt sie, „während sie einen Kaffee oder ein Bier trinken.“ Das habe die Vielfalt unter den Gästen schon beeinträchtigt. „Manche unserer Gäste haben wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft schon schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht“, sagt Jule, „und bleiben deshalb jetzt lieber weg.“ Es sei sehr schade, aber auch sie sagt den Satz, den viele sagen: weniger Stress, aber auch weniger Kunden.

Die Späti-Besitzer rund um die Kotti-Wache freuen sich meist über die Anwesenheit der Polizei. Sie machen sogar mehr Umsatz als vorher, da weniger Diebstähle verübt werden. Zara arbeitet seit mehr als drei Jahren in einem Kiosk in der Nähe des Kottbusser Tors. Jahrelang war ihr Kiosk überfallen und ausgeraubt worden. „Insgesamt ist die Arbeitsatmosphäre jetzt angenehmer“, sagt sie.

Etwas irritiert ist der Mitarbeiter der Regenbogenbuchhandlung um die Ecke. Er dachte, er habe jetzt einen Ansprechpartner direkt vor Ort. Aber als er danach fragte, sagte die Polizei ihm, dass er im Ernstfall trotzdem die 110 anrufen solle. „Die Polizei kümmert sich nur um Straßenangelegenheiten“, so seine Einschätzung. Aber auch er muss zugeben, dass es im Umfeld ruhiger geworden ist.

Kotti-Wache: 1050 Strafanzeigen nach sechs Monaten

Im ersten halben Jahr hat die Kotti-Wache 1050 Strafanzeigen aufgenommen. Das sind 92 Straftaten mehr als im selben Zeitraum ein Jahr zuvor, als es die Wache noch nicht gab. Allerdings rücken die Polizisten der Wache auch dann aus, wenn es Probleme am Görlitzer Park oder am Schlesischen Tor gibt. Die Polizeiwache kümmert sich längst nicht nur um den Kotti.

Die Auswirkungen auf den Platz sind deutlich zu spüren: Die Polizei verhaftet direkt am Kotti eine Person meist nur einmal. Wenn diese Person nach ein oder zwei Tagen im Gefängnis wieder freikommt, lässt sie sich meist nicht mehr am Kotti blicken. Die Gastronomen, Anwohner und Anwohnerinnen, mit denen die Berliner Zeitung an diesem Tag spricht, bedauern, dass die Probleme des Kottis lediglich verlagert und nicht gelöst worden sind. „Dem Kotti geht es besser“, sagt ein Anwohner, „aber den Menschen, die hier für Probleme gesorgt haben, denen geht es heute genauso schlecht.“

Die Drogenszene zum Beispiel ist nur ein Stück weitergezogen. Die Süchtigen stehen jetzt nicht mehr am U-Bahnhof Kottbusser Tor, sondern in der Station Schönleinstraße oder in der Reichenberger Straße. Dort befindet sich die Einrichtung Fixpunkt, wo Süchtige Unterstützung bekommen. Dort finden sie auch einen Raum für den Konsum von Drogen, doch der schließt schon um 18 Uhr. Spätestens danach, berichten Anwohner, würden die Süchtigen wieder zum Konsumieren in Hauseingänge des Kiezes gehen.

Es gab einmal die Idee, die Wache direkt auf der Reichenberger Straße zu eröffnen, nur zwei Gehminuten vom Kottbusser Tor entfernt. Das hätte den Vorteil gehabt, im Erdgeschoss statt im ersten Stock eines Gebäudes zu sein. Innensenatorin Spranger aber war es wichtig, dass die Station von weitem zu sehen ist. Manche Anwohner empfinden das als eine Machtdemonstration des Staates. Ein bitterer Beigeschmack: Der Architekt des Wohnhauses, in dem die Polizeiwache jetzt untergebracht ist, hatte dort ursprünglich einen Gemeinschaftsraum mit Kino und Bar für die Bewohner geplant. 

Jule erzählt auf ihrer Café-Terrasse noch von einem unangenehmen Erlebnis mit der Polizei: Einige Gäste hatten sich so gesetzt, dass der Zugang zur Polizeiwache nicht mehr die volle Breite hatte. Zwei Stühle sind erlaubt, aber es saßen dort vier Gäste. Als sich ein Gast weigerte aufzustehen, nahmen die Beamten seine Personalien auf. Als Jule den Gast verteidigte, sie selbst kannte die Regelung noch nicht, sagte ein Polizist zu ihr: „Ich muss mich hier jetzt nicht mit einer Kellnerin streiten.“ Sie empfand den Ton verletzend und „voller Missbilligung“. 

Wer sich im August 2023 auf den Platz stellt, den alle nur Kotti nennen, der sieht keine Dealer mehr, die in den Ecken stehen, keine Obdachlosen, die vor dem Eingang des Supermarktes liegen und nach Kleingeld fragen. Es ist leiser geworden hier.

Doch wer den Platz in Richtung Kottbusser Damm und Reichenberger Straße überquert, der wird schnell die erste Bank sehen, auf der nur Süchtige sitzen. Oder anders: Eigentlich sitzt auf fast jeder Bank plötzlich ein Mensch, dem es sichtlich schlecht geht. Ein junger Mann spricht einen Passanten an, ob er nicht etwas rauchen wolle.