Wahlpannen

Chaos-Wahl 2021: „Missstände in der gesamten Berliner Verwaltungsorganisation“

Eine Expertenkommission sollte untersuchen, was schief gelaufen ist. Nun hat sie einen schonungslosen Bericht vorgelegt.

Lange Schlangen vor einem Wahllokal am 26. September 2021
Lange Schlangen vor einem Wahllokal am 26. September 2021dpa/Hauke-Christian Dittrich

Lange Warteschlangen vor Wahllokalen, fehlende und falsche Stimmzettel: Die Wahlpannen am 26. September in Berlin waren kein Naturereignis, sie waren absehbar. Das ist einer der Schlüsse, zu dem die Expertenkommission „Wahlen in Berlin“ gekommen ist.

Damit es beim nächsten Mal nicht wieder so ein Desaster gibt, hat eine 21-köpfige unabhängige Kommission seit November die Wahlpannen untersucht. Dabei kamen Empfehlungen an die Politik heraus, die die Kommission an diesem Mittwoch bei der Vorstellung ihres Berichtes präsentierte.

Eines schickte die Kommission voraus: Es gebe „überhaupt keine Anzeichen“ dafür, dass jemand manipulativ auf Wahlergebnisse eingewirkt habe, sagte Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität. Es gehe eigentlich „nur“ um Organisationsmängel.

Im Unterschied zu früheren Jahren waren diese Wahlen besonders komplex: Der Bundestag wurde gewählt sowie das Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente. Und es gab den Volksentscheid zur Enteignung von Wohnungsunternehmen. Die vielen Wahlzettel, der Marathon, der zeitgleich veranstaltet wurde, die Organisationspannen: „Hier sind viele kleinere zu einem größeren Problem zusammengekommen und haben zu diesem Wahldebakel geführt“, sagte Stephan Bröchler, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Politik- und Verwaltungswissenschaften lehrt.

Gesucht: Eine Persönlichkeit mit Durchsetzungsstärke

Zu den Vorschlägen, die die Kommission unterbreitet, gehört, dass Wahlen künftig berlinweit einheitlich organisiert werden. Es brauche einheitliche Standards in Form von Handlungsleitfäden, Prozessbeschreibungen und Checklisten. In allen Bezirken müssten die ehrenamtlichen Wahlhelfer (die keinerlei Schuld treffe) einheitlich geschult werden. „Die Aufgaben und Rollenbeschreibungen der einzelnen Akteure der Wahl müssen geklärt und die Verantwortlichkeiten eindeutig festgelegt werden“, sagte Christian Waldhoff.

Die Kommission empfiehlt zudem, dass die Landeswahlleitung in ihren Kompetenzen gestärkt wird. Die Landeswahlleiterin oder der Landeswahlleiter müsse ein übergreifender Manager sein. Hierzu brauche es eine starke Persönlichkeit mit Durchsetzungsstärke auch gegenüber höheren Ebenen, heißt es in dem Bericht.

Nötig sei die Einrichtung eines zentralen Landeswahlamtes. Es soll mit mindestens einem Juristen und Datenfachleuten ausgestattet sein. Die Bezirkswahlämter müssen diesem gegenüber auskunftspflichtig sein.

Das eigentliche Problem liege in der Zusammenarbeit zwischen der Landeswahlleitung und den Bezirken, sagte Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung und Mitglied der Kommission. „Wären in allen Wahllokalen die korrekten Stimmzettel in ausreichender Zahl zu Beginn verfügbar gewesen und hätten alle Wahllokale ausreichend Wahlkabinen gehabt, dann wäre es für Berliner Verhältnisse eine relativ normaler Wahltag“, so Vehrkamp.

Doch Stimmzettelkartons waren von der Druckerei falsch beschriftet geliefert worden. Sie waren teils auch nicht sortenrein sortiert. Dieses Problem sei relativ schnell bekannt gewesen, sagte Vehrkamp. „Und die Frage stellt sich: Warum sind da nicht die Alarmanlagen angegangen in der Berliner Verwaltung? Der wesentliche Grund ist, dass die Landeswahlleitung nicht stark genug ist und keine systematischen Informations- und Durchgriffsrechte gegenüber den Bezirken bestehen.“

Fehlende verbindliche Standards

Aus Vehrkamps Sicht „hätte zunächst einmal jemand eine schlaflose Nacht haben müssen“. Aber die gesamtstädtische Verantwortung sei nicht klar organisiert. „Sonst hätte es die erforderliche Krisensitzung zur Lösung dieses Problems gegeben.“

Vehrkamp kritisierte die individuelle Praxis der Bezirke, die Wahllokale mit Stimmzetteln auszustatten. „Hier wäre ein gemeinsam vereinbarter Standard erforderlich, dass in Berlin künftig alle Wahllokale vor Beginn des Wahlaktes mit einer ausreichenden Zahl korrekter Stimmzettel ausgestattet sind.“

Hamburg und Bremen hatten auch schon Wahlen zu unterschiedlichen Parlamenten an einem Tag. Die Zahl der Wahlkabinen wurde dort verdoppelt. Diese Überlegung habe es in der Landeswahlleitung Berlin auch gegeben, so Vehrkamp. „Wegen fehlender verbindlicher Standards wurde daraus aber auf dem Weg in die Bezirke, dass nur etwa ein Viertel mehr Wahlkabinen als bei der Wahl 2017 zur Verfügung standen.“

Professoren fordern eine Verwaltungsreform für Berlin

Die Kommission kritisiert, dass ein Großereignis wie der Marathon parallel stattfand – nicht einmal in erster Linie, weil er den Verkehr und den Nachschub an Stimmzetteln behinderte. Sondern weil die Bedeutung des der Demokratie gewidmeten Wahltages geschmälert werde.

Ende September will das Berliner Verfassungsgericht über zahlreiche Einsprüche gegen die Wahlen verhandeln. Dann fällt die Entscheidung, ob die Abgeordnetenhauswahl in Teilen oder komplett wiederholt werden muss.

Die vielen Pannen haben allerdings noch tiefere Ursachen. „Manche Missstände haben nicht nur mit den Wahlen zu tun, sondern sind Missstände in der gesamten Berliner Verwaltungsorganisation“, sagte Christian Waldhoff, der das ungeklärte Verhältnis zwischen Senat und Bezirken kritisiert. Hier sei das deutlich geworden.

Er und auch sein Professoren-Kollege Bröchler sprachen sich für eine Verwaltungs- und Verfassungsreform aus. „Vielleicht ist unser Bericht ein Anstoß dafür“, so Bröchler. „Denn die Probleme zwischen Land und Bezirken werden an anderen Stellen immer wieder aufbrechen.“

Innensenatorin Iris Spranger (SPD) erklärte, sie wolle die Vorschläge auswerten und zügig konkrete Maßnahmen zur Umsetzung angehen . „Die Einrichtung eines zentralen Landeswahlamts halte ich für eine gute Idee.“

CDU-Generalsekretär Stefan Evers erklärte, die Expertenkommission halte dem Senat schonungslos den Spiegel vor. Der Bericht der Fachleute sei „eine Bilanz des Versagens“.  Neben der CDU und forderten auch Linke und FDP, die Kommissionsvorschläge umzusetzen.