„Bislang sind uns keine Vorfälle in diesem Zusammenhang bekannt geworden“, sagte ein Polizeisprecher der Berliner Zeitung kurz vor dem Start des Straßenumzuges in Kreuzberg, der der Höhepunkt des viertägigen Festes ist. Die Veranstalter hoffen, dass der Umzug ohne Störungen stattfinden kann. Zu den Befürchtungen im Zusammenhang mit den Klima-Klebern sagte eine Sprecherin des Karnevals der Berliner Zeitung: „Wir haben im Vorfeld davon gehört.“ Doch direkte Gespräche mit den Klima-Klebern habe es nicht gegeben. „Wir wären gern mit ihnen ins Gespräch gekommen“, sagte sie. „Aber wir wissen nicht, was passieren wird.“
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Auch beim Karneval geht es um Klimaschutz, das wird bereits bei dem Wagen deutlich, der den Umzug anführt. Denn der Hänger, so groß, dass er früher von Lastwagen gezogen wurde, ist nun völlig klimaneutral unterwegs. Weder ein dieselbetriebener Lkw zieht das Gefährt noch ein Elektromobil. Es wird von Menschenkraft angetrieben. Links und rechts des Hängers sind jeweils sieben Stangen befestigt. So schieben Frauen und Männer den Wagen. Und auch sonst ist hier alles sehr grün und zukunftsorientiert.
Der falsche Ort für Proteste
Die erste Gruppe wird tanzend angeführt von einer Frau und einem bärtigen Mann in Frauenkleidern sowie einem tanzenden Frosch. Bei den Tänzerinnen, die danach folgen, dominieren die Farben Grün und Orange. Ihnen folgen Wesen auf hohen Stelzen und mit riesigen Schmetterlingsflügeln, auch die anderen Kostüme dieser Samba-Truppe sind eindeutig von Motiven des bedrohten südamerikanischen Regenwaldes inspiriert.

Wer beim Karneval unterwegs ist, sieht, dass dies die falsche Veranstaltung für eine Protestaktion wäre, denn der Karneval der Kulturen sieht sich nicht nur als postmigrantische, antirassistische Tradition, mit der die Vielfalt dieser Stadt gezeigt werden soll, sondern es wird gezielt auch auf Nachhaltigkeit gesetzt. Und die Mehrheit der 48 teilnehmenden Gruppen mit 2500 Leuten ist sicher eher auf der Seite des Klimaschutzes als auf der Seite der Benzin-Fraktion.
Karneval der Kulturen: 6000 Dosen am Bierstand, 4 Euro pro Stück
Um zu begreifen, worauf sich die Händler bei diesem Karneval vorbereitet haben, muss nur dieser eine Bierstand angeschaut werden. Er steht irgendwo neben der vierspurigen Straße namens Hasenheide vor einem Bio-Supermarkt. Hier wird eine gängige norddeutsche Biermarke verkauft. Vier Euro die Dose.
Und es wird mit richtig viel Kundschaft gerechnet. Hinter dem Verkaufsstand, so groß wie ein Wohnwagen, stehen vier große Euro-Paletten mit Bier. In acht Schichten stapeln sich dort die Dosen schulterhoch übereinander. Ein kurzer Überschlag ergibt, dass allein dieser Stand 6000 Dosen Bier bereithält. Am Stand gleich daneben gibt es Bowle, gegenüber Cuba Libre und nebenan Caipirinha. Überall große Getränkepaletten.

Sonne und Lebensfreude treffen an diesem Sonntagnachmittag in Kreuzberg auf allerbeste Weise zusammen. Das Karree zwischen der Gneisenaustraße und dem Hermannplatz ist weiträumig abgesperrt. Überall steht Polizei in den Seitenstraßen. Die knapp 50 Wagen des Karnevalsumzuges bewegen sich langsam von West nach Ost, gleichzeitig sind in der Gegenrichtung so viele Menschen unterwegs, dass sich alle Beobachter automatisch fragen, wie voll es dort vorn sein muss. Dort, wo die Wagen sind, ist der eigentliche Umzug, die Musik, die Stimmung, die Kostüme, die Ausgelassenheit.
Wer diese Menschenmassen sieht, begreift, warum die halbe Stadt heute so leer wirkt. Selbst der sonst bei Sommersonnenwetter immer völlig überlaufene Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz in Friedrichshain ist an diesem Sonntag recht dürftig besucht. Halb Berlin ist auf den Beinen, aber dieses halbe Berlin ist an diesem Nachmittag in Kreuzberg. Der Karneval ist zurück, und auf den Straßen regiert der reine Spaß. Essen und Getränke jeder Art gibt es überall und die Sprachen der halben Welt schwirren durcheinander.
Anwohnerin: „Ist das nicht fürchterlich hier?“
Am Wegesrand sitzt Wolfgang aus Kreuzberg, der ein paar Blocks entfernt wohnt und der mit seinen Nachbarn immer herkommt. Sie haben extra ihre Campingstühle mitgebracht. „Drei Jahre Pause waren echt Mist“, sagt der 62-jährige ehemalige Klempner. Gerd, sein Kumpel, kommt gerade an und ruft „Sonderangebot“ und stellt einen Beutel voller eisgekühlter tschechischer Biere ab. Er sagt: „Wir freuen uns einfach, dass das Leben nach Corona wieder normal ist.“ Dann kommt Heidi, alle umarmen sich. Heidi ruft ganz laut in die Runde: „Ist das nicht fürchterlich hier? Wirklich fürchterlich – fürchterlich toll.“ Alle lachen.

Schräg gegenüber dröhnen die Bässe elektronischer Musik über die Menschenmassen, die einen gehen weiter, die anderen tanzen. Dann wird die Musik überdröhnt von der Sambamusik des ersten Wagens, der nun bald drei Viertel der Strecke bis zum Hermannplatz geschafft hat. Bis hierher gab es offensichtlich keine Störungen durch Klima-Kleber.
Etwa hundert Meter vor dem Wagen gehen etliche Polizisten die Straße entlang und damit durch die Massen. Die Männer und Frauen in Uniform sagen höflich: „Bitte alle hinter die weiße Linie zurücktreten.“ Die meisten Leute hören tatsächlich. Gleich danach fahren vier Polizeikleinbusse die Straße entlang und machen so noch mehr Platz für die Tänzerinnen und Tänzer. Dann kommen noch einmal Polizisten. Wenig Gelegenheit also, um sich dort anzukleben.
Die Zukunft des Karnevals ist noch recht ungewiss. Früher waren 90 Gruppen bei dem Straßenumzug dabei, doch aus Kostengründen sind es dieses Mal nur halb so viele. Wie der Karneval in Zukunft finanziert werden soll, ist noch nicht klar. Aber die Veranstalter reden darüber bereits mit dem Senat.
Am Rande des Umzugs sagt Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo von der CDU dem RBB: „Eines ist klar: Nächstes Jahr werden wir wieder hier stehen und auch das Jahr danach.“ Doch an der Finanzierung sollen sich auch Firmen beteiligen. Der Grund dafür: Die Wirtschaft der Stadt profitiere vom Karneval der Kulturen.
Schauen, Tanzen, Trinken
Die Stimmung bei dem Umzug ist ausgelassen, die Musik laut. Jeder Platz auf jeder Mauer und jedem Toilettenhäuschen ist besetzt. Am Straßenrand ist so gut wie kein Durchkommen. Eigentümlicherweise versuchen trotzdem Mütter mit Kinderwagen durch das Gedränge zu gehen, aber auch Männer mit Hunden an der Leine. Babys und Hunde bleiben überraschend entspannt oder sie sind völlige eingeschüchtert.
Alle anderen schauen zu, tanzen Samba, trinken Cocktails, lachen ausgelassen oder genießen einfach die Sonne und das große Straßenfest. Berlin feiert – und auch wenn es ein wenig klischeehaft klingt: An diesem Nachmittag hat der Wettergott tatsächlich Samba im Blut.
















