Urteil am Landgericht Berlin

Tödlicher Nachbarschaftsstreit: Hi Thommy, geht’s dir nicht gut? Kann ich helfen?

Es schien, als kämen Thomas P. und Marina G. gut miteinander aus. Dann erschlug er seine 67-jährige Nachbarin. Nun fällt das Landgericht Berlin das Urteil.

Er rief mit blutigen Händen die Polizei.
Er rief mit blutigen Händen die Polizei.Uros Pajovic/Berliner Zeitung

Die Stimmen, die am vergangenen Dienstag im Saal 704 des Berliner Kriminalgerichts in schönstem Berliner Dialekt zu hören sind, stammen aus einem WhatsApp-Chat. „Hey, Thommy, gehste heute einkoofen?“, tönt die raue Stimme einer älteren Frau aus dem Lautsprecher des Richter-Laptops. Dann ist eine dunkle Männerstimme zu hören: „Kann ick machen, Marina.“

Die Nachrichten, die an diesem Tag abgespielt oder verlesen werden, sind von Marina G. und Thomas P. Sie stammen aus den ersten drei Februarwochen dieses Jahres und sind Beweismittel. Zeigen sollen sie, wie die 67-jährige Frau und ihr 15 Jahre jüngerer Nachbar miteinander umgingen – und vielleicht einen Hinweis geben auf eine Tat, die unerklärlich scheint. Der gewaltsame Tod von Marina G.

Doch es gibt kein einziges böses Wort in den Nachrichten. Im Gegenteil, sie zeugen von einem guten Verhältnis. Er kaufte für sie ein. Sie borgte ihm ab und an etwas Geld. Er bedankte sich dann „für den Fuffi“. Sie antwortete, dass er sich wegen der Rückzahlung „mal keenen Kopp“ machen solle.

Thomas P. kochte sogar für seine Nachbarin mit. Er habe Frischgehacktes und Champignons zu Hause, lässt er sie einmal wissen. Wenn sie Bock auf ein Essen habe, solle sie Bescheid sagen. „Ick hab einen Bock, ick hab einen Bock. Ick hab janz viele Böcke“, antwortet Marina G. kurz darauf wie ein aufgeregtes Kind, um ihren Nachbarn später für sein Curry-Risotto zu loben: „Ick hab fast die janze Schüssel uffjefressen. Dit war lecker.“ Und er antwortet: „Freut mich, schlaf jut.“

Die Kommunikation per WhatsApp endet am 22. Februar. Weil Thomas P. auf keine Sprachnachricht mehr reagiert, schreibt ihm Marina G.: „Hi Thommy, gehts dir nicht gut? Sag doch bitte was. Kann ich helfen?“ Der Gefragte ist kurz angebunden, schickt zwei Worte zurück: „Alles gut.“

Er rief mit blutigen Händen die Polizei

Einen Tag später liegt Marina G. erschlagen in ihrer Wohnung in der Golmer Straße in Spandau. Der Täter selbst wählt um 14.59 Uhr mit blutigen Händen, so werden es Zeugen später berichten, den Notruf der Polizei. Es ist Thommy, der Nachbar. Hatte die Frage der Nachbarin, ob er Hilfe benötige, zu der Tat geführt?

Thomas P. ist ein großer, kräftiger Mann. Seit Mitte August muss er sich vor einer Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts verantworten. Die drei Berufsrichter und zwei Schöffen müssen klären, warum das scheinbar so gute Nachbarschaftsverhältnis ein solch gewaltsames Ende fand und ob der Angeklagte für seine Tat überhaupt verantwortlich gemacht werden kann. Denn Thomas P. ist psychisch krank, er hat seit Herbst vorigen Jahres seine Medikamente nicht mehr genommen.

An jedem Verhandlungstag trägt Thomas P. eine schwarze Jogginghose mit weißen Streifen und ein dazu passendes schwarzes kurzärmeliges Shirt. Mit hängenden Schultern und traurigem Blick sitzt er auf der Anklagebank, er wirkt niedergeschlagen. Als die WhatsApp-Nachrichten abgespielt werden, senkt er den Kopf so tief, dass er fast hinter der Balustrade aus Holz verschwindet, die den Angeklagten von den anderen Prozessbeteiligten trennt.

Der Zimmerer ohne Abschluss, wie er sich nennt, muss sich wegen Totschlags verantworten. Am 23. Februar dieses Jahres soll er gegen 14 Uhr im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses mit seiner Nachbarin Marina G., die sich tags zuvor noch so sorgenvoll nach seinem Befinden erkundigt hatte, in Streit geraten sein. Die Auseinandersetzung eskalierte. Thomas P. soll auf seine Nachbarin eingeprügelt, sie dann in ihre Wohnung verfolgt und dort weiter mit Schlägen traktiert haben.

Hi Thommy, gehts dir nicht gut? Sag doch bitte was. Kann ich helfen?

Marina G. am Vortag ihres Todes

Selbst als Marina G. schon am Boden lag, habe er sich auf die bereits stark blutende Frau gesetzt und sie weiter malträtiert. „Unter anderem schlug er dabei ihren Kopf derart brutal gegen eine Türschwelle, dass eine Teilskalpierung der Geschädigten die Folge war“, heißt es in der Anklage. Das Blut des Opfers sei bis auf eine Höhe von einem Meter an die Wände gespritzt.

Als sich Marina G. nicht mehr regte, ließ Thomas P. von seiner Nachbarin ab. Er lief die eine Treppe hinunter. Vor der Haustür wählte er auf seinem Handy die Notrufnummer, meldete sich mit seinem Namen und gab an, von seiner Nachbarin „massiv attackiert“ worden zu sein. „Ich habe sie niedergestreckt“, sagte er dem Beamten am anderen Ende der Leitung. Und er gab an, dass er sich habe wehren müssen. „Sie wollte mich töten.“ „Lebt die Dame noch?“, fragte der Mann aus der Notrufzentrale. „Gehe ich von aus“, antwortete Thomas P.

Als zwei Streifenwagen und der Rettungsdienst kurz darauf vor dem Haus eintrafen, stand Thomas P. noch immer vor der Eingangstür. Er trug Jogginghose, T-Shirt und Latschen. Auf die zuerst eintreffenden Beamten machte er zunächst einen verwirrten Eindruck. Für die Seniorin, die in ihrer im ersten Stock gelegenen Wohnung zwischen Flur und Küche in einer Blutlache lag, kam jede Hilfe zu spät. Sie erlitt schwerste Kopf- und Gesichtsverletzungen, erstickte noch am Tatort an ihrem eigenen Blut.

Thomas P. erzählte den Polizisten, dass seine Nachbarin Geld von ihm zurückgefordert habe, dann immer wütender geworden und mit dem Schlüssel auf seinen Hals losgegangen sei. Drei-, viermal habe er ihr daher mit der Faust eine „auf die Zwölf gegeben“. Sie sei eine männerhassende Lesbe gewesen, die im Haus nur Lügen über ihn verbreitet habe. Es sind Aussagen, die nicht im Mindesten zu den Nachrichten aus dem Chat passen.

Polizisten, Hausbewohner, Freundinnen des Opfers und die Lebensgefährtin des Angeklagten sind Zeugen in dem Prozess. Eine Mischung Urberliner. Auch eine psychiatrische Gutachterin ist geladen. Aus den Aussagen fügt sich ein Bild zusammen. Von einem psychisch kranken Mann, der angibt, seit Jahren an einer bipolaren Störung zu leiden. Eine Krankheit, bei der die Stimmung des Betroffenen zwischen Manie und Depression schwankt. Und von einer Frau, über die die Meinungen stark auseinandergehen. Von herzlich bis herrisch, von einsam bis besitzergreifend ist die Rede.

17 Jahre waren Thomas P. und Marina G. Nachbarn. Er zog mit 34 Jahren in die Erdgeschosswohnung, nachdem seine Mutter gestorben war und er sich eine neue Bleibe suchen musste. Einen Beruf hat er nicht erlernt. Er lebt von Hartz IV, versucht, sich als Computerfachmann selbstständig zu machen. Einer Nachbarin richtete er den Laptop ein, der ältesten, weit über 80 Jahre alten Bewohnerin des Hauses den Fernseher. Bei Marina G. war es das Handy.

Als Thomas P. einzog, lebte Marina G. schon lange Zeit in dem Mehrfamilienhaus. Sie arbeitete in einer Pension, später in einer Sattlerei. Nach mehreren Rückenoperationen ging sie mit 64 Jahren in Rente. Zum Schluss war die 1,54 Meter kleine Frau auf den Rollator angewiesen.

Klinik war traumatisches Erlebnis

Marina sei eine sehr einsame Frau gewesen, sagt ihre einstige Lebensgefährtin vor Gericht. Sie konnte liebenswert und hilfsbereit sein, aber auch aggressiv werden. „Sie war sehr dominant, hat versucht, mich zu besitzen“, erzählt die Ex-Freundin. Sie berichtet von einer schweren Herzerkrankung und Cannabiskonsum. Marina habe immer fünf, sechs Joints dabeigehabt, wegen der Schmerzen im Rücken. „Eigentlich war sie nie clean“, sagt die 58-Jährige. Sie sei hilfebedürftig geworden und habe ihre Wohnung immer seltener verlassen.

Zum Verhältnis zu Thomas P. sagt die Zeugin: Anfangs hätten sich beide gegenseitig geholfen. Thomas sei ab und an bei Marina gewesen, um sich Geld zu borgen. Dann sei er komisch geworden. Marina habe vor Jahren mal die Feuerwehr gerufen, weil Thomas fast nackt herumgelaufen sei. Das war 2011. Thomas P. wurde damals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wurde dort fixiert. Für ihn war es ein traumatisches Erlebnis.

Später beschwerte sich Marina G. über den Geruch, der aus der Wohnung des Angeklagten kam. „Sie hat da kein Blatt vor den Mund genommen, auch mal bei ihm angerufen und gesagt, dass es stinkt“, erklärt die einstige Partnerin des Opfers. Lass ihn einfach in Ruhe, habe sie ihr geraten. Die Tat sei ein Schock gewesen. „Ich kann mir nur vorstellen, dass sie ihn vielleicht gereizt hat.“

Eine andere langjährige Freundin der getöteten Frau berichtet, Marina habe für jeden ein gutes Wort gehabt. Sie sei ein großzügiger Mensch gewesen, sicher auch manchmal rabiat. „Sie hatte eine große Klappe, wenn sie etwas haben wollte und nicht gleich bekam“, berichtet die 57-Jährige. Früher habe Marina viel getrunken, dann sei sie aber nie aggressiv geworden. Zuletzt spielte der Alkohol im Leben der 67-Jährigen keine Rolle mehr. „Sie hat gekifft, seit 40 Jahren. Das wussten wir alle.“ Alle aus dem Haus.

Auch zu Thomas P. kann die Zeugin einiges erzählen. Anfangs sei er ein netter junger Mann gewesen, der immer ein Lächeln im Gesicht hatte. „Er hat seine Erscheinung verloren“, beschreibt die Zeugin die Veränderung. Ungepflegt sei er herumgelaufen und offenbar ein „sehr, sehr, sehr einsamer Mensch“ gewesen. Manchmal sei er ausgeflippt, habe im Haus herumgebrüllt, die Musik laut aufgedreht oder an Marinas Tür gehämmert. „Ich riet ihr, die Polizei zu rufen. Doch Marina hat nur gesagt: Der beruhigt sich schon wieder.“

Im Sommer vorigen Jahres lernte Thomas P. eine Frau kennen, sie war Mutter von drei Kindern. Die beiden verlobten sich. Er kam gerade wieder aus der Klinik und gab Marina G. die Schuld für seine Einlieferung, erzählt sie. Ihren Verlobten beschreibt sie als offenen, sehr freundlichen, ruhigen, lustigen und ehrlichen Menschen. Auffälliges habe sie nicht erlebt, sonst hätte sie ihn nie zu ihren Kindern gelassen. Die 39-Jährige spricht aber auch von der Angst ihres Verlobten, „wieder abgeholt zu werden, wenn er zu laut Musik hören“ würde. Er habe sich zu Hause kaum zu atmen getraut.

Thomas P. selbst kann sich die Gewalttat nicht erklären. Der psychiatrischen Gutachterin sagte er, er sei wie ein böses Tier vorgegangen. Das Verhältnis zu seiner Nachbarin nennt er eine Zweckgemeinschaft. Marina sei vor Jahren für seine Einweisung in die Psychiatrie verantwortlich gewesen. Er habe zunehmend Angst gehabt, dass sie dies jederzeit wieder tun könne.

Diagnose: paranoide Schizophrenie

Die gemeinsame Zeit mit seiner Verlobten nennt er sehr glücklich. Wohl auch, weil er dachte, die Beziehung würde ihm genug Halt geben, setzte er die Medikamente ab. Ein Fehler, wie er heute weiß. Den Morgen des Tattages beschreibt er als völlig normal. Er hatte die Nacht bei seiner Freundin verbracht, die Kinder zur Schule verabschiedet, war dann nach Hause gegangen. Im Treppenhaus traf er auf seine Nachbarin. Marina G. habe ihn auf seine Schulden angesprochen und dass er mit der Rückzahlung der 100 Euro mal „zu Potte kommen“ solle.

Thomas P. erzählt, dass er in Panik geraten sei. Ihre Frage vom Vortag, ob es ihm gut gehe, ihre Forderung nun. Er sah sich schon wieder in der Klinik, sah sein gerade beginnendes glückliches Leben zusammenbrechen. Er schlug zu. Weil Marina den Schlüssel gegen ihn geführt habe, sagt er. In ihrer Wohnung habe er rot gesehen. Nur schemenhaft könne er sich erinnern.

Eine Erklärung für die Tat hat die psychiatrische Sachverständige. Thomas P. leide nicht an einer bipolaren Störung, sondern an einer paranoiden Schizophrenie mit aggressiven Impulsdurchbrüchen, erklärt sie. Diese Erkrankung führe ohne Behandlung zu einer Missdeutung der Realität. Der Angeklagte habe geglaubt, dass über ihn schlecht gesprochen werde. Als er Marina G. am Tattag begegnete und sich an ihre besorgte Frage vom Vortag erinnerte, sei er in Panik geraten, habe eine Katastrophe vorhergesehen.

Nach Ansicht der Gutachterin handelte Thomas P. in „wahnhafter Notwehr“. Die Steuerungsfähigkeit sei krankheitsbedingt vermindert, wenn nicht sogar aufgehoben gewesen. Die Expertin empfiehlt, den Angeklagten in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen.

Staatsanwalt Johannes Jost hat nach der Beweisaufnahme keine Zweifel, dass Thomas P. die Tat begangen hat. Er kann der psychiatrischen Sachverständigen folgen. Es müsse etwas für den Angeklagten Bedrohliches geschehen sein. Dass Marina G. ihren Nachbarn mit einem Schlüssel angegriffen haben soll, findet der Anklagevertreter unwahrscheinlich. Thomas P. habe den Straftatbestand des Totschlags erfüllt, sagt Jost. „Aber Strafe setzt auch verantwortliches Handeln voraus.“ P. aber leide an einer krankhaften seelischen Störung. Er müsse freigesprochen und in eine Klinik eingewiesen werden.

Auch Julius Frenger, der Verteidiger von Thomas P., sieht das so. Sein Mandant sei therapiewillig. Frenger geht deswegen so weit, die Unterbringung von Thomas P. auf Bewährung auszusetzen. Sein Mandant könne ambulant behandelt werden.

Am Freitag wird das Urteil gegen Thomas P. erwartet. Seine Verlobte hält zu ihm. Das Eheversprechen sei auch weiterhin ernst gemeint, sagt sie. Sie könne sich eine Zukunft mit ihm gut vorstellen.