In der Nacht zum 1. Februar 2018 wird Ferat Kocak in seinem Rudower Elternhaus wach. Wie immer schaut er auf sein Handy. Es ist 3 Uhr und für diese Uhrzeit viel zu hell im Zimmer. Deswegen geht er dem Lichtschein entgegen. Er tritt ans Fenster, sieht die Flammen, die bedrohlich nah aus dem angrenzenden Carport schlagen. Nun hellwach, schaut er zur Einfahrt. Das Tor, das er am Abend geschlossen hat, ist offen.
Kocak rennt schreiend hinaus, damit seine Eltern wach werden. Sie schlafen im Zimmer nebenan. Seinem Vater ruft er zu, er möge die Feuerwehr alarmieren. Dann versucht er, mit einem Feuerlöscher die Flammen, die aus seinem roten Smart lodern, vom Haus fernzuhalten. Das ist schwierig, denn der Wagen brennt lichterloh, und die Garage steht unter einem Vorsprung des Dachgiebels.
Später registriert Kocak die Verzweiflung im Gesicht seines Vaters, sieht seine Mutter im Nachthemd auf der Straße stehen. Es ist nicht die Kälte, die sie zittern lässt. Einen Meter von dem brennenden Auto entfernt verläuft die Gasleitung für das Haus. Die Flammen breiten sich fast bis zur Dachdämmung aus. Die Feuerwehr wird Kocak später sagen: Fünf Minuten später und alle im Haus wären verbrannt.
Ferat Kocak hat die Bilder von jener Nacht, die sein Leben verändern sollten, noch immer im Kopf, als er vor wenigen Tagen in einem Café in Berlin-Mitte sitzt. Mit ruhiger, sonorer Stimme beschreibt sie der 43 Jahre alt Politiker der Linken sehr plastisch.
Er erinnert sich genau daran, wie sich die Kriminalbeamten noch am Tatort nicht einigen konnten, ob sie nun wegen Brandstiftung oder schwerer Brandstiftung ermitteln sollten. Wie sie ihn fragten, ob das Feuer mit seinen kurdischen Wurzeln zu tun haben könnte. Wie seine Hände anfingen zu zittern, als die Flammen gelöscht, die Polizei wieder weg war. Wie er sich die Zigarette ansteckte, obwohl er mit dem Rauchen längst aufgehört hatte. Wie die Anspannung von ihm abfiel, als seine Lebensgefährtin kam und er zu weinen begann.
Diese Bilder seien jetzt, kurz vor dem Prozess gegen die mutmaßlichen Täter des rechtsextremistischen Brandanschlags, wieder sehr real in seinem Kopf, sagt er. Er schlafe wieder schlecht. Kocak hat Angst. Um seine Eltern.
Drohungen, gesprengte Briefkästen, kaputte Scheiben
Das Feuer, das das Auto von Ferat Kocak zerstörte, ist Teil einer Serie von insgesamt 72 rechtsextremistischen Straftaten in Neukölln. Darunter sind mehr als 20 in Brand gesetzte Fahrzeuge, viele Drohungen, gesprengte Briefkästen und eingeworfene Fensterscheiben. Jahrelang wurden so Menschen terrorisiert, die sich in ihrem Bezirk gegen Rechtsextremismus engagiert haben. Künstler, Schriftsteller, Politiker, Kirchenvertreter, Gewerkschafter, Lehrer.
Nach langen erfolglosen Ermittlungen beginnt an diesem Montag vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen insgesamt fünf Angeklagte aus dem rechtsextremistischen Milieu. Im Mittelpunkt stehen dabei der 36-jährige Sebastian T. und der 39-jährige Tilo P. Seit Jahren sind sie den Behörden bekannt. Sebastian T. war laut Anklage einmal Kreis-Chef der NPD, er ist mehrfach vorbestraft. Tilo P. zog es eine Zeit lang in die Reihen der AfD. Er stand vor Kurzem wegen einer Attacke auf einen Taxifahrer vor Gericht.
Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihnen lediglich vor, zwei Brandanschläge begangen zu haben: auf das Auto von Ferat Kocak und – in derselben Nacht – auf das Fahrzeug des Buchhändlers Heinz Ostermann. Auch Ostermann macht sich seit Jahren gegen rechtsextremistische Umtriebe in Neukölln stark.

Sebastian T. und Tilo P. sollen Kocak und Ostermann lange Zeit ausgespäht, die Brandstiftungen geplant und sie schließlich verübt oder Beihilfe dazu geleistet haben. Womöglich habe sich auch ein Dritter an den Taten beteiligt, heißt es in der Anklage.
Verfassungsschutz und Polizei hatten die beiden Hauptangeklagten schon lange vor den Taten im Verdacht, für die Serie von Straftaten verantwortlich zu sein. Seit vielen Monaten hörten sie sogar live mit, wie Kocak ausspioniert wurde. Fein säuberlich trugen sie die überwachten Telefongespräche und Chats zusammen. Sie wussten, in welcher Gefahr Kocak schwebte. Gewarnt haben sie ihn nicht.
Das ist nur eine Panne bei den Ermittlungen zu den rechten Anschlägen. Im Jahr 2020 wurde ein mit dem Fall befasster Staatsanwalt versetzt – wegen seiner vermeintlichen Nähe zu Tilo P. Zwei vom Senat eingesetzte Sonderermittler stellten schließlich im vorigen Jahr Fehler bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz fest. Viel zu spät sei der Seriencharakter der Anschläge erkannt, viel zu früh seien Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Hinweise auf ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der Polizei, das die Betroffenen bis heute befürchten, fanden sie nicht.
In dem nun unter großen Sicherheitsvorkehrungen beginnenden Prozess geht es auch um mehrere Drohungen, die mit roter Lackfarbe auf die Fassaden von Häusern vermeintlicher Gegner in Neukölln gesprüht worden sind. Zudem sollen Sebastian T. und Tilo P. zusammen mit drei weiteren Angeklagten Plakate und Aufkleber mit rechtsextremen Parolen geklebt haben. T. muss sich außerdem wegen Betrugs verantworten. Er soll ungerechtfertigt Hartz IV und Corona-Soforthilfe kassiert haben. Sebastian T. und Tilo P. befinden sich auf freiem Fuß.
Ferat Kocak passt durchaus in das sogenannte Feindbild der Angeklagten. Er engagiert sich seit seiner Jugend politisch, etwa in Initiativen gegen Rechtsextremismus. Im vergangenen Jahr wurde er ins Berliner Parlament gewählt. Er habe in den Monaten vor dem Anschlag nie bemerkt, dass er verfolgt und ausspioniert worden sei, sagt er nun.
Kocaks wacher Blick nimmt einen wehmütigen Zug an, als er erzählt, dass er ein offener, nie misstrauischer Mensch gewesen sei. Der Anschlag auf sein Auto und damit sein Elternhaus sei eine Zäsur gewesen in seinem Leben. Er vertraue niemandem mehr. Seine Psyche sei in einem ständigen Alarmzustand. „Ich bin nicht mehr leistungsfähig“, sagt er. Zweimal habe er deswegen den Job wechseln und sich in psychologischen Beratungsstellen Hilfe holen müssen.
Von Gewissensbissen gegenüber seinen Eltern spricht er. Seiner Mutter sei es nach dem Anschlag zusehends schlechter gegangen. Sie habe anfangs nicht mehr gesprochen, sich nicht mehr aus dem Haus getraut, schließlich einen Herzinfarkt erlitten.
„Neukölln-Komplex“: Anklage der #GeneralstaatsanwaltschaftBerlin gegen zwei Tatverdächtige aus der rechtsextremen Szene u.a. wegen Brandstiftung, Bedrohung und Sachbeschädigunghttps://t.co/m85Xsv73s5
— Generalstaatsanwaltschaft Berlin (@GStABerlin) August 30, 2021
Ferat Kocak übernachtet seit „der Sache mit dem Auto“ wieder öfter bei seinen Eltern. Nachts findet er dann häufig keinen Schlaf, fühlt nach eigenen Worten eine riesige Verantwortung. „Der Gedanke, dass jederzeit ein Molotowcocktail durch ein Fenster des Hauses fliegen kann, während meine Eltern schlafen, ist für mich eine reale Gefahr“, sagt er.
Er habe nach dem Anschlag daran gedacht, seine politische Arbeit einzustellen, gar wegzuziehen. Doch seine Mutter habe ihn noch im Krankenhaus motiviert weiterzumachen. Für sie sei es auch nicht infrage gekommen wegzuziehen. Den Gefallen tue sie denen nicht, habe sie gesagt.
Etwas mehr als einen Kilometer von Kocaks Elternhaus entfernt liegt die Kiezbuchhandlung Leporello von Heinz Ostermann. Der 65-Jährige ist in seinem Laden schon wegen seiner Statur nicht zu übersehen. Groß und stämmig steht er mit seinen grauen Strubbelhaaren zwischen den Büchertischen, ein schelmisches Lächeln um Mund und Augen.

Ostermann scheut die Öffentlichkeit nicht. Er will aufmerksam machen auf das, was in Neukölln geschieht. In seinem Büro hinter dem Kassentresen, das mit zwei Schreibtischen, Regalen, Leitzordnern und etlichen Kartons vollgestellt ist, erzählt er wenig später, dass er den Buchladen seit 15 Jahren betreibt. Dafür hat er seinen sicheren Job im öffentlichen Dienst quittiert. „Bücher sind etwas Wunderbares, sie können einem die Welt erklären, träumen lassen“, sagt er.
Ostermann initiierte das Literaturfestival „Rudow liest“. Vor fünf Jahren erhielt sein Geschäft den Deutschen Buchhandlungspreis, 2019 verlieh ihm der Bezirk Neukölln die Ehrennadel. An der Wand seines Büros hängt eine Illustration der Kinderbuchautorin Anke Kuhl, die ein krakeelendes Männlein mit Deutschlandfahne zeigt. Darunter steht ein Spruch über den rechtsextremen AfD-Politiker Höcke: „Alle Kinder wollen Frieden. Außer Björn – der will stör’n.“ „Der ist von mir“, sagt der Buchhändler mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
In der Nacht, in der Ferat Kocaks Auto brannte, wurde auch Heinz Ostermann in seiner Britzer Wohnung aus dem Schlaf gerissen. Gegen 2.30 Uhr klingelte sein Telefon. Die Polizei teilte ihm mit, dass sein in der Nähe geparktes Auto brenne. Die Beamten hatten die Nummer bereits gespeichert, es war nicht der erste Anschlag, der dem Buchhändler galt.
2016 begann Ostermann damit, sich gegen rechts zu engagieren. Damals holte die AfD in Neukölln bei der Parlamentswahl fast 14 Prozent der Stimmen. Das habe er nicht hinnehmen können, sagt er. Zusammen mit anderen Mitstreitern der Branche gründete er die Initiative „Neuköllner Buchhändler gegen Rechtspopulismus und Rassismus“.
Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mich jemand verfolgt, um herauszufinden, wo ich wohne, um dann mein altes Auto anzuzünden.
Anfang Dezember 2016 fand in Ostermanns Buchladen eine Diskussionsrunde zum Thema „Was tun gegen die AfD? Aufstehen gegen Rassismus!“ statt. Ein paar Nächte später flogen Steine in die Scheiben seines Kiezladens. Ostermann ließ Sicherheitsglas einbauen und die Schlösser erneuern. Sechs Wochen später wurde vor seiner Privatadresse in Britz sein alter Ford angezündet.
Freunde, Nachbarn und Kunden sammelten daraufhin Geld, um Ostermann zu unterstützen. Damit konnte er sich einen gebrauchten Peugeot kaufen. Fast ein Jahr nach dem ersten Brandanschlag ging auch dieses Fahrzeug in Flammen auf. „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass mich jemand verfolgt, um herauszufinden, wo ich wohne, um dann mein altes Auto anzuzünden“, sagt er kopfschüttelnd.
Nach dieser Attacke gründete Ostermann die Initiative „Rudow empört sich“ mit. „Ich bin empört über die zahlreichen Brandanschläge und die Vielzahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten….“, hieß es auf Postkarten, die an den damaligen SPD-Innensenator Andreas Geisel adressiert waren. Er wurde aufgefordert, die Anschlagsserie aufzuklären. „Eine Reaktion darauf gab es nicht“, sagt Ostermann.
Ostermann sieht dem Prozess skeptisch entgegen
Was den kommenden Prozess betrifft, ist er eher skeptisch. „Ich sehe dem Verfahren mit gemischten Gefühlen entgegen“, sagt er, und ein besorgter Blick verdrängt das Schelmische in seinem Gesicht. Einerseits sei er froh, dass überhaupt etwas geschehe. Andererseits hege er gewisse Zweifel, dass die Hauptverdächtigen wegen der Brandstiftungen verurteilt werden. Schließlich sei es eine reine Indiziengeschichte.
Und wirklich: Es gibt keine Beweise gegen Sebastian T. und Tilo P. Weder wurden sie bei den Brandstiftungen ertappt, noch gibt es Geständnisse. Allerdings soll Tilo P. einmal einem Ermittler gegenüber gesagt haben, dass doch jeder wisse, dass Sebastian T. die Autos angezündet habe. Mirko Röder, der Anwalt von Tilo P., setzt in dem Prozess auf eine Freispruchsverteidigung. „Wir verhandeln nicht die 72 Taten, die Sebastian T. und Tilo P. zugeordnet werden. Wir verhandeln wegen zweier abgebrannter Autos“, sagt er.
Zudem übt er scharfe Kritik daran, dass Ferat Kocak als Betroffener auch Mitglied des seit Mai eingesetzten Untersuchungsausschusses zu den Neuköllner Anschlägen ist. In seinen Augen sei dies ein Verstoß gegen das Untersuchungsausschussgesetz. Danach darf ein Mitglied des Ausschusses nicht selbst Betroffener sein. Ferat Kocak sagt, im Untersuchungsausschuss vertrete er die Interessen der Betroffenen. Er werde sich an die Vorgaben halten und sich in seinem Fall heraushalten.
Im Prozess ist der Linke-Politiker nach einer ersten Absage doch noch als Nebenkläger zugelassen. Es gehe in dem Verfahren vor allem um die Frage, warum in der seit 13 Jahren andauernden Anschlagserie die Aufklärungsquote so lange bei null gelegen habe, obwohl der Täterkreis längst bekannt gewesen sei, sagt Kocak.
Er hofft, von den Angeklagten Informationen zu V-Leuten in der Neuköllner rechten Szene zu bekommen und darüber, was es mit einem möglichen Treffen eines LKA-Mannes mit Tilo P. auf sich hat. Sowohl der Gerichtsprozess als auch der Untersuchungsausschuss böten Möglichkeiten, weiterzubohren und zu schauen, „wie tief wir bohren können und dürfen und wie viel braune Sauce dort rauskommt ... Ich glaube, wir haben ein Problem mit rechten Verstrickungen der Behörden.“



