Gastbeitrag zur Mobilität (3)

Warum die Fahrradstadt Amsterdam kein Vorbild für Berlin sein kann

Wenig Raum für Fußgänger, viele Parkplätze, breite Autobahnen: In der niederländischen Stadt läuft einiges falsch, so Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr.

Verkehrsgewühl vor dem Hauptbahnhof Amsterdam.
Verkehrsgewühl vor dem Hauptbahnhof Amsterdam.imago/Michael Schick

Berlin-Wenn Berlin wie Amsterdam wäre … Wenn es um die niederländische Metropole geht, werden deutsche Verfechter der Mobilitätswende sehnsüchtig. Mit pfiffiger Öffentlichkeitsarbeit hat es die Stadt geschafft, sich als Hort des verkehrspolitischen Fortschritts darzustellen. „Amsterdam gilt als Vorbild im Verkehr“, sagt Roland Stimpel aus Berlin, Sprecher des Fachverbands Fußverkehr Deutschland (FUSS). „Doch die Wirklichkeit ist ziemlich trist. Berlin sollte sie nicht kopieren.“ In seinem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung erklärt Stimpel, warum die Berliner skeptisch sein sollten.

Roland Stimpel: „Spazieren an romantischen Grachten, Radfahren ohne Stress, eine von geparktem Blech befreite Stadt – das ist das Traumbild von Amsterdam. Nicht wenige in Berlin wollen die Verkehrspolitik dieser niederländischen Stadt nachahmen. Dabei sieht das echte Amsterdam größtenteils ganz anders aus. Zehnspurige Schnellstraßen zerteilen die Randgebiete. Sie münden in einen Autobahnring um die innere Stadt, über dem die EU-Grenzmarken für Luftschadstoffe immer wieder gerissen werden. In Amsterdams Gründerzeitvierteln stehen die Autos auf den Straßen dicht an dicht. Und in den berühmten Prachtgrachten kann man kaum irgendwo am Wasser spazieren: Die Uferseite ist fast überall Parkplatz.

Die Statistik bestätigt das von Blech geprägte Bild. In Amsterdam wird ein größerer Teil der Wege per Auto zurückgelegt als in Berlin – und es sind mehr Wege als mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit Bahnen und Bussen. Gefährlicher ist es dort auch: Auf eine Million Einwohner gerechnet starben 2020 auf Berlins Straßen 14 Menschen, in Amsterdam 20.

Fahrräder und Autos machen Fußgängern den Platz streitig. Eine typische Gehwegszene in Amsterdam.
Fahrräder und Autos machen Fußgängern den Platz streitig. Eine typische Gehwegszene in Amsterdam.Roland Stimpel

Von dort können wir für unsere Verkehrszukunft vor allem lernen, wie man es nicht machen sollte. Den größten Missgriff hat die niederländische Metropole beim Generalziel getan. Amsterdam hat nicht ernsthaft eine Verkehrswende versucht, die Sicherheit, Entschleunigung, Platzsparen und die Mobilität Ärmerer und Benachteiligter in den Vordergrund stellt. Stattdessen hieß das unausgesprochene Motto „Auto plus Fahrrad“. Während Berliner die Mehrzahl ihrer Wege zu Fuß, per Bahn oder Bus bewältigen, dominieren in Amsterdam das Auto mit 31 Prozent und das Fahrrad mit 28 Prozent aller Wege. Damit ist die Stadt in eine Sackgasse geraten. Statt einem Verkehrsmittel mit Platzfraß, Gedrängel, Staus und Unfällen gibt es jetzt zwei. Ihre Benutzer behindern sich gegenseitig und alle anderen, die sie nicht benutzen.

Amsterdam setzte wie viele Städte in der Nachkriegszeit voll aufs Auto. Es hat seinen großzügig bemessenen Raum fast komplett behalten, einen großen Teil darf es sogar exklusiv nutzen. Der viel gelobte Radwegebau, der in den 1970er-Jahren begann, hatte nicht zuletzt das Ziel, Fahrräder und auch Mopeds von der Fahrbahn zu bekommen. In den Niederlanden ist die Zahl der jährlich gefahrenen Radkilometer in einem Vierteljahrhundert um 0,4 Milliarden gestiegen – während die Zahl der Autokilometer um 12 Milliarden zunahm, also dreißigmal stärker. Für Amsterdam gibt es keine Zahlen, die Stadt dürfte aber im Landestrend liegen.

Museum mit Radwegtunnel

Nicht nur zum Autofahren, auch zum Parken gibt es in Amsterdam reichlich Raum. In den meisten Straßen außerhalb der Altstadt stehen die Autos dicht an dicht am Fahrbahnrand – oft schräg zur Fahrbahn oder gar quer, damit mehr Fahrzeuge Platz haben. In der Altstadt gibt es 17 größere Tiefgaragen und Parkhäuser, gleich um die Ecke vom Königspalast steht eins mit 444 Plätzen. Anwohnerparken ist zwar teurer als bei uns, je nach Gegend kostet es bis zu 45 Euro im Monat. Aber viele zahlen die Gebühr bereitwillig, die Blechflut ebbt nicht ab. Amsterdam übt auf wohlhabende und bequeme Autofahrer und -pendler keinen echten Druck aus, sich anders zu bewegen.

Darum bleiben viele hinterm Steuer, obwohl der Radverkehr seit Jahrzehnten gepäppelt wird. Fast alle größeren Straßen haben Radwege, manche an jeder Seite zweispurige. Mitten durchs Rijksmuseum verläuft ein Tunnel zum Radeln, genau unter den Rembrandts und Vermeers. Der Radlobby Fietsersbond reicht das alles nicht, sie fordert jetzt Straßen mit Mehrfach-Radwegen: in der Straßenmitte für Schnellfahrer, neben dem Gehwege für Langsame und Unsichere.

Gutverdiener haben sich durchgesetzt

Auch Parks sind fest in Radlerhand. Gleich zwei jeweils acht Meter breite Fahrradstraßen ziehen sich durch den lang gestreckten, aber nur 300 Meter schmalen Vondelpark. Selbstverständlich sind sie asphaltiert. Zur Rushhour ist es kaum möglich, sie zu Fuß zu überqueren. Grau statt Grün im Park – diesen Amsterdamer Kardinalfehler droht Berlin jetzt im ganz großen Stil zu machen: Der Entwurf fürs hiesige Radnetz sieht Verkehrswege in 55 Parks und Grünzügen vor. Ziel ist nicht zuletzt die „Entlastung der Straßen für Kraftfahrzeugfahrende“, schreiben die Planer der Senatsfirma infraVelo.

In Amsterdam herrscht auch beim Parken Einigkeit zwischen Auto- und Radlobbyisten. Das Auto gibt keinen Raum ab und das Rad steht anderswo – vorzugsweise auf den Bürgersteigen, die in der inneren Stadt meist schmaler sind als in Berlin. Nur selten sieht man Radparkplätze am Fahrbahnrand auf früherem Auto-Abstellraum.

Durchgesetzt haben sich in Amsterdam die Lobbys politisch einflussreicher Gutverdiener. Sie leisten sich teure Kraftfahrzeuge. Aber auch das Radfahren ist in Amsterdam ziemlich bürgerlich: Menschen mit Hochschulabschluss legen 43 Prozent ihrer Wege auf dem Rad zurück, die mit niedrigem Bildungs- und Einkommensniveau nur 22 Prozent. Wer weder Auto noch Fahrrad fährt, hat in dieser Stadt Pech. Das trifft vor allem Alte, ganz Junge, Ärmere und Behinderte.

Straßenbahnen sind oft langsam

Weil Vier- und Zweiräder dominieren, sind Bahn und Bus nicht sehr stark. Straßenbahnen fahren zwar häufig, aber oft langsam, da sie vielfach keine eigene Trasse haben – das Fahren und Parken von Autos und Rädern hat Vorrang. Amsterdams Fußgänger befinden sich in der Hackordnung ganz unten. Auf zwei Beinen werden hier nur gut halb so viele Wege zurückgelegt wie in Berlin. Gehwege sind zum Großteil faktisch Fahrrad-Parkraum. An breiten und stark befahrenen Radwegen warten Passanten manchmal minutenlang auf eine ausreichende Lücke zum Überqueren.

Die Lehre für Berlin: Radverkehr zulasten von Gehen, Grünanlagen, BVG und S-Bahn hilft weder Mobilität noch Umwelt. Wir sollten vor allem unseren Verkehr zu Fuß, per BVG und S-Bahn stärken. Das Fahrrad gehört bei der Verkehrswende an die dritte Stelle. Raum sollte es nur vom Auto bekommen.

In einem aber ist Amsterdam vorbildlich: E-Roller zum Ausleihen wurden gar nicht erst erlaubt. Denn vollgestellt mit Fahrzeugen sind die Wege auch so.“


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