So ein Experiment hat es in Deutschland noch nicht gegeben. In einem ganzen Wohnviertel sollen über mehrere Monate alle Stellplätze für Autos entfallen – von Ausnahmen abgesehen. Wo heute noch Kraftfahrzeuge stehen, soll der Straßenraum anders genutzt werden: für Spiel und Sport, Sitzbänke, Grün und Gastronomie. Doch die Vorbereitungen für das Mobilitätswendeprojekt „Graefekiez ohne Parkplätze“ in Berlin-Kreuzberg sind immer noch nicht abgeschlossen. Absehbar ist, dass es im Frühjahr 2023 noch nicht losgeht – und dass nun doch nicht der ganze Graefekiez einbezogen wird.
„Die rechtliche Prüfung läuft noch“, sagte Stadträtin Annika Gerold, die im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg für die Straßen zuständig ist, der Berliner Zeitung. Es sei wichtig, dass das Vorgehen juristisch wasserdicht sei, damit etwaige Klagen keinen Erfolg hätten, so die Grünen-Politikerin. Beobachter erwarten, dass Anwohner vor Gericht ziehen werden. Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) habe eine Expertise in Auftrag gegeben, teilte Gerold mit. Dort sieht man einen möglichen Ansatz in Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung, der Nutzungsbeschränkungen zu Forschungszwecken erlaubt. Das erklärte der WZB-Mobilitätsforscher Andreas Knie.
„Das Bezirksamt befindet sich noch in der Grundlagenermittlung, die voraussichtlich bis Anfang 2023 andauern wird. Hierbei steht vor allem die Klärung rechtlicher Fragen im Vordergrund“, bestätigte Berthe Jentzsch, Sprecherin der Grünen-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung. „Im Anschluss wird das Bezirksamt das genaue Projektgebiet und den Zeitplan für das Beteiligungsverfahren veröffentlichen.“
„Wir brauchen tatsächlich noch etwas Zeit“
Annika Gerold deutete an, dass der zurzeit auf sechs Monate terminierte Modellversuch im Frühjahr 2023 wohl noch nicht beginnen kann, weil weitere Vorbereitungen anstehen. Ziel bleibe aber auf jeden Fall, dass die warme Jahreszeit einbezogen werde, sagte sie. Schließlich sollen die frei werdenden Straßenflächen auch rege genutzt werden – was bei gutem Wetter häufiger der Fall sei. Einen Start im Sommer 2023 schloss sie nicht aus. „Wir brauchen tatsächlich noch etwas Zeit“, sekundierte Andreas Knie.
Absehbar ist auch, dass das Projektgebiet enger gefasst wird. Hieß es bis zuletzt, dass es den gesamten Graefekiez mit allen rund 2000 Autostellplätzen einschließen würde, gilt es laut Gerold nun als denkbar, dass der Modellversuch nicht alle Straßen des Kreuzberger Wohnviertels einbezieht. Dem Vernehmen nach wird der Zuschnitt davon abhängen, wie viel Personal dem Bezirksamt zur Verfügung steht. Zur Vorbereitung werden in der Verwaltung Mitarbeiter gebraucht. Während der Laufzeit des Praxistests muss das Ordnungsamt dafür sorgen, dass die Regelungen auch eingehalten werden.
Damit stehen auf mehreren Ebenen anspruchsvolle und personalintensive Aufgaben an. Die illegal mit Autos zugestellten Ladezonen auf dem benachbarten Kottbusser Damm zeigen, wie schwierig es sein kann, Parkverbote dauerhaft durchzusetzen.
Grüne: Menschen in Friedrichshain-Kreuzberg wollen Veränderungen
Sollten Anpassungen nötig werden, „stehen wir dem grundsätzlich offen gegenüber“, sagte Berthe Jentzsch. „Wichtig ist für uns, dass wir im Rahmen des Prozesses Erkenntnisse gewinnen, wie sich die notwendige Verkehrsberuhigung im Kiez, Verbesserungen bei der Verkehrssicherheit insbesondere im Bereich der vielen Kitas und Schulen und Konzepte für den Lieferverkehr konkret umsetzen lassen.“ Eine große Mehrheit der Menschen im Bezirk fordere solche Änderungen. In Friedrichshain-Kreuzberg ist der Motorisierungsgrad noch geringer als im übrigen Berlin. Die meisten Wege werden klimafreundlich zurückgelegt – trotzdem haben Autos noch viel Platz.
Nicht alle Stellflächen im Graefekiez fallen vorübergehend weg: Parkplätze, die für Autos von Menschen mit Beeinträchtigungen bestimmt sind, sollen erhalten bleiben, auf anderen markierten Flächen sollen Carsharing-Fahrzeuge auf Kundschaft warten. SPD und Grüne wünschen sich zudem Angebote mit Mieträdern und Mietlastenrädern.
CDU will Einwohnerantrag am 25. Januar ins Bezirksparlament einbringen
Andere Parteien sehen den geplanten Modellversuch dagegen kritisch. Wie berichtet, hat die Linke im Bezirk gefordert, „das Meinungsbild der unmittelbar Betroffenen zu erheben“, mit einer Befragung per Post. Die Online-Befragung des WZB, die 2021 eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Umwandlung von Autostellplätzen ergeben hatte, reiche nicht aus. Auch Bewohner im Umfeld des Graefekiezes, wo sich der Parkdruck erhöhen werde, sowie Beschäftigte des Krankenhauses am Urban müssten befragt werden.
„Keine Experimente mit den Menschen im Graefekiez!“ Unter diesem Motto haben die Christdemokraten Unterschriften für einen Einwohnerantrag gesammelt. Mehr als tausend Voten sind erforderlich, am Ende waren es 1444 Stimmen, bestätigte Timur Husein, Vorsitzender der CDU-Fraktion in Friedrichshain-Kreuzberg. „Es war nicht schwer, die Stimmen zusammenzubekommen“, sagte er. Noch immer träfen in den drei Abgabestellen Unterschriften ein. Das Ziel sei, dass das Bezirksparlament am 25. Januar über den Antrag abstimmt. Doch der Bezirksverordnete befürchtet, dass Grüne und Sozialdemokraten das Thema in den Ausschuss verweisen. Beide Fraktionen sprächen oft von Bürgerbeteiligung. „Aber nur, wenn es politisch nicht passt“, so Husein.
Mobilitätssenatorin Jarasch begrüßt den geplanten Praxistest
„Wir begrüßen Engagement von Bürger:innen“, entgegnete Berthe Jentzsch. Den Grünen war es „von Anfang an wichtig, Bedürfnisse und Wünsche von Anwohnenden und Betroffenen in die Planung einzubeziehen“. Vor, während und nach dem Projekt gebe es ein „Beteiligungsformat“. Dazu gehörten repräsentative Umfragen im Kiez, Konferenzen mit Bürgern sowie eine enge Einbindung der Gewerbetreibenden.





