Kreuzberger Graefekiez

Ein ganzes Viertel ohne Parkplätze: Wie soll das eigentlich funktionieren?

Ein radikales Projekt: Im Kreuzberger Graefekiez soll es keine Stellflächen für Autos mehr geben. Das wirft brennende Fragen auf.

Bodo Pahlke wohnt im Graefekiez. Er hält das Experiment für sinnvoll.
Bodo Pahlke wohnt im Graefekiez. Er hält das Experiment für sinnvoll.Sabine Gudath

Längst nicht jeder Kreuzberger besitzt ein Auto. Doch für diejenigen, die eines haben, könnte es schwierig werden. Ein ganzes Wohnviertel ohne Parkplätze: Das soll im Graefekiez, in dem 20.000 Menschen leben, Wirklichkeit werden: Mindestens sechs Monate lang – von wenigen Ausnahmen abgesehen – soll es nicht mehr erlaubt sein, Autos abzustellen. Es ist ein Modellprojekt, das es in dieser Radikalität noch nicht gegeben hat.

Zwar soll es die Möglichkeit geben, einige Hundert Meter entfernt das Parkhaus am Hermannplatz zu nutzen. Doch selbst wer das will, könnte leer ausgehen. „In dem Parkhaus wird nicht für alle Fahrzeuge, die heute im Graefekiez abgestellt werden, Platz sein“, sagte Annika Gerold, Stadträtin für Verkehr, Grünflächen, Ordnung und Umwelt. Die Grünen-Politikerin beantwortete am Freitag Fragen, die das Experiment aufwirft.

Wie soll kontrolliert werden, dass das Parkverbot eingehalten wird? Ist zu befürchten, dass es Parksuchverkehr in angrenzenden Vierteln gibt? Gibt es eine Rechtsgrundlage?

Das geplante Projekt ist ein absolutes Novum. Kein Wunder, dass es Gesprächsbedarf gibt. Noch lässt sich längst nicht jede Frage umfassend beantworten, gestand Gerold ein.

Nur für einen Teil der Parkplätze gibt es Ersatz im Parkhaus

Mit Beginn des Experiments werden in dem Wohnviertel südlich vom Landwehrkanal mehr als 2000 öffentliche Stellplätze frei. Diese Zahl ist eine Schätzung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), das den Versuch mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg betreut.

Doch schon in kleineren Bereichen, etwa in den Lieferzonen entlang des Kottbusser Damms, schaffen es die Behörden nicht, Stellflächen von Falschparkern freizuhalten. Wie soll das in einem ganzen Stadtviertel gelingen?

„Entscheidend für den Erfolg des Versuchs wird sein, dass die Einhaltung der neuen Regelungen wirksam kontrolliert wird. Aus meiner Sicht ist dies die größte Herausforderung, über die ich nun mit allen zuständigen Ämtern sprechen werde“, sagte Stadträtin Gerold. „Der Allgemeine Ordnungsdienst unseres Bezirks muss bereits zahlreiche Aufgaben wahrnehmen und zudem in allen Teilen des Bezirksgebiets präsent sein. Ich setze mich dafür ein, dass wir die zwölf unbesetzten Stellen in unserem Ordnungsamt zügig besetzen. Dann hätten wir für den ganzen Bezirk insgesamt 44 Ordnungsamtskräfte - zwar mehr als bisher, dennoch nicht ausreichend.“

Wie berichtet soll der Bezirk den Bewohnern des Kreuzberger Graefekiezes anbieten, das Parkhaus des Kaufhauskomplexes am Hermannplatz in Neukölln zu nutzen – für 30 Euro im Monat. „Dort wird eine dreistellige Zahl von Stellplätzen verfügbar sein“, sagte Andreas Knie vom WZB.

Für alle reiche die Kapazität nicht aus, doch der Politikwissenschaftler rechnet ohnehin nur mit einer geringen Nachfrage. Ein solches Angebot habe es bereits gegeben, als der Kottbusser Damm Radfahrstreifen bekam. „Nur eine zweistellige Zahl von Fahrzeugbesitzern nahm es damals an“, so Knie.

Er schloss nicht aus, dass viele Autobesitzer zunächst in benachbarten Vierteln Stellflächen suchen werden. „Parksuchverkehr wird eine weitere Herausforderung sein. Ich schließe es nicht aus, dass es zumindest zu Beginn des Versuchs in angrenzenden Vierteln auf den Straßen eng wird“, so Annika Gerold. „Doch das soll ja eines der Themen des Feldversuchs sein. Er soll auch dazu anregen, die Frage zu stellen: Nutzen wir den Straßenraum richtig? Sollte der knappe Platz für andere Dinge in Anspruch genommen werden? Unser mittelfristiges Ziel ist, die Parkraumbewirtschaftung auch auf diesen Teil des Bezirks auszudehnen, was nach bisherigen Erfahrungen die Situation entspannt.“

Stadträtin Gerold: „Natürlich gibt es Menschen, die auf private Autos angewiesen sind“

Geplant sei ein „Experiment für mehr Flächengerechtigkeit“, so die Stadträtin. „Wir wollen gemeinsam herausfinden, ob sich städtischer Raum auch anders nutzen ließe als zum Abstellen von Autos.“ Ein weiteres Ziel sei, Mobilitätsverhalten zu ändern. „Natürlich gibt es Menschen, die auf private Autos angewiesen sind. Aber sehr viele in der Innenstadt nutzen ihr Kraftfahrzeug nur selten“, sagte Gerold. „Menschen, die bisher daran gewöhnt seien, ihren Wagen vor der Haustür oder zumindest in der Nähe der Wohnung im öffentlichen Straßenland abzustellen, würden künftig nachdenken. Ist es wirklich sinnvoll, auch kurze Strecken in Berlin mit dem Auto zurückzulegen, wenn ich dafür nun erst einmal zum Parkhaus am Hermannplatz gehen muss? Gibt es nicht auch andere Möglichkeiten, mein Ziel zu erreichen? Wenn der Feldversuch im Graefekiez solche Denkprozesse anstößt, hat er schon einiges erreicht.“

Doch es gehe nicht vorrangig darum, den Bürgern etwas zu nehmen, sagte Gerold. „Wie der freiwerdende Straßenraum genutzt wird, werden wir mit allen Akteuren besprechen:  Anwohnern, Ämtern und den Forschern des Wissenschaftszentrums.“

Es gehe nicht nur darum, das Mobilitätsverhalten zu verändern, sondern auch Möglichkeiten für die Gestaltung innerstädtischer Wohnstraßen zu erproben. „Begrünung und Entsiegelung, Spielstraßen, Tischtennisplatten, Sitzgelegenheiten, Gastronomie – da wäre einiges möglich. Wichtig ist aus meiner Sicht auch, angemessenen Platz für den Wirtschaftsverkehr zu schaffen. Im Graefekiez sollen Liefer- und Handwerkerfahrzeuge nicht mehr verkehrsbehindernd in der zweiten Reihe halten müssen.“

Grundlage des geplanten Modellprojekts ist ein Antrag der Grünen und der SPD für die Bezirksverordnetenversammlung. „Er wurde in die Ausschüsse für Umwelt- und Naturschutz, Grünflächen und Klimaschutz sowie für Verkehr und Ordnung überwiesen, wo er fachpolitisch beraten wird“, sagte Berthe Jentzsch, Sprecherin der Grünen-Fraktion. „Das WZB mit dem Team um Professor Knie wird dort das Forschungsvorhaben vorstellen.“

Das könnte entweder im Mai oder im Juni geschehen, hieß es im Bezirk. Danach soll ein Beschluss des Bezirksparlaments folgen. Gerold geht davon aus, dass der Versuch noch im Sommer startet.

Die Bezirks-CDU lehnt den geplanten Versuch ab

Timur Husein, Kreis- und Fraktionsvorsitzender der CDU im Bezirk, bezeichnete den Versuch als rechtswidrig, undemokratisch (Anwohner wurden nicht gefragt) und unsolidarisch. Benachbarte Kieze würden leiden. „Die CDU lehnt das Experiment ab!“ schreibt Husein bei Twitter. „Immer wenn Privilegien abgebaut werden, haben einige Menschen etwas dagegen. Wenn wir den vorhandenen Raum gerechter nutzen wollen, müssen wir damit leben“, sagte Anwohner Bodo Pahlke.

Auch die Restaurantbesitzerin Lisa Stüve äußerte sich positiv. „Ich finde, es ist ein interessanter und guter Modellversuch. Ich denke, man schafft es nur mit mit kleineren, neuen Versuchen, die zunächst für wenige Monate durchgeführt werden, die Menschen zum Umdenken zu bewegen.“

„Ich weiß, dass er bereits jetzt kontrovers diskutiert wird“, sagte die Stadträtin. „Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass der BVV-Antrag ein temporäres Projekt fordert, das nach einer bestimmten Zeit wieder beendet wird.“

In sozialen Medien wird  befürchtet, dass der Graefekiez komplett vom Autoverkehr abgeklemmt wird. „Doch auch während des Experiments wird es möglich und erlaubt sein, mit Kraftfahrzeugen in den Graefekiez zu fahren und dort zu halten“, entgegnete die Politikerin, die keine rechtlichen Probleme erwartet. „Wer zum Beispiel Waren liefern oder Senioren aus dem Altersheim abzuholen will, darf dies auch weiterhin tun. Für Carsharing-Autos wird es mehr Stellflächen geben, und die Behindertenparkplätze bleiben erhalten.“