Berlin-Auf einem Teil der Friedrichstraße in Mitte soll bald dauerhaft kein Autoverkehr mehr möglich sein. Es geht um die „Flaniermeile“, die bereits seit anderthalb Jahren für Autos tabu ist – allerdings bisher nur provisorisch. Doch Senat und Bezirk müssen mit Gegenwind rechnen. Am Montag hat das Aktionsbündnis „Bündnis Rettet die Friedrichstraße“ rechtliche Schritte angekündigt – bis hin zu einem Gerichtsverfahren. „Wenn die Verantwortlichen tatsächlich Nägel mit Köpfen machen, werden wir uns vorbehalten, dagegen vorzugehen“, sagte Annette Greiner-Bäuerle vom Wirtschaftskreis Mitte. Das Bündnis stellte eine Auswertung von GPS-Daten vor, wonach die Besucherzahlen nach dem Start der Flaniermeile deutlich zurückgegangen sind.
Für die einen ist es ein gelungenes Beispiel für die fällige Mobilitätswende, das auch auf anderen Einkaufsstraßen Schule machen sollte. Andere finden das, was in der Friedrichstraße rund um das Warenhaus Galeries Lafayette entstanden ist und nun zur Dauerlösung werden soll, einfach nur peinlich. „Hässlich ist es dort, wie auf einer Dauerbaustelle“, sagt Frank Henkel, einst Abgeordneter, Innensenator und CDU-Landeschef und jetzt Vorsitzender des Wirtschaftskreises Mitte. „Versifft“ sehe es aus, pflichtete ein Anrainer bei. Selbst in Bielefeld sei es schöner. „Da will keiner flanieren.“
16 Prozent unter dem Durchschnitt
Wo einst Autos fuhren und parkten, ist der Platz nun Radfahrern und Fußgängern vorbehalten. In der Mitte der einstigen Fahrbahn wurde mit gelbem Klebeband ein vier Meter breiter Radfahrstreifen markiert. Daneben wurden hölzerne Sitzkonstruktionen, Pflanzkübel und Vitrinen aufgestellt. Flaniermeile: So lautet die Überschrift für den Verkehrsversuch, der Ende August 2020 auf dem rund 500 Meter langen Abschnitt zwischen der Leipziger und der Französischen Straße begonnen hat.
Wie hat sich der Bereich objektiv entwickelt? Dazu präsentierte das Bündnis Rettet die Friedrichstraße am Montag eine Datenauswertung des Tech-Unternehmens Place Sense. Dessen Mitarbeiter haben die Besucherzahlen der einzelnen Monate von April 2019 bis Februar 2022 mit dem Durchschnittswert für den ganzen Zeitraum verglichen. Vor dem ersten Corona-Lockdown 2020 sei der Abschnitt zwischen der Französischen und der Leipziger Straße gut genutzt worden, berichtete Jan Barenhoff von Place Sense. „Im Schnitt lagen die Besucherfrequenzen um 17 Prozent über dem Durchschnitt“, sagte er. Dies habe sich aber umgehend geändert, als dort das Pilotprojekt von Bezirk und Senat begann. Seit dessen Start bewege sich die Frequenz im Schnitt um 16 Prozent unter der Benchmark, wie die Datenanalysten den Vergleichswert nennen, so Barenhoff.
Ein anderes Unternehmen kommt zu einem anderen Ergebnis
Drei andere Straßen in Berlin, die nach demselben Schema untersucht wurden, schnitten deutlich besser ab. Die Situation auf der heutigen Flaniermeile sei „dauerhaft schlechter“ als auf dem Kurfürstendamm, der Tauentzienstraße und selbst auf dem Teil der Friedrichstraße, der sich zwischen Unter den Linden und der Spree erstreckt. „Für Radfahrer ist es sicher angenehmer geworden“, sagte Barendorf über den autofreien Abschnitt. „Als Flaniermeile hat der Bereich nicht an Attraktivität gewonnen.“
Wie berichtet, hat sich auch das Berliner Unternehmen What A Location mit dem heute autofreien Abschnitt der Friedrichstraße befasst. Allerdings kommt es in seiner Auswertung zu einem diametral anderen Ergebnis. Danach waren dort zum Beispiel im August 2020, also kurz vor Beginn des Verkehrsversuchs, täglich im Schnitt 7693 Menschen unterwegs. Im September 2020, kurz nach dem Start des Pilotprojekts, stieg die Zahl auf 9026. Im März dieses Jahres wurden sogar 9781 Menschen pro Tag gezählt – das sind beachtliche 65 Prozent mehr als im Juni 2020, als die Corona-Folgen abzuflauen begannen.
Mobilfunk oder GPS – was ist besser?
What A Location nutzt nach eigenen Angaben Mobilfunkdaten. „Sie beziehen sich auf die einzelnen Funkzellen“, sagte Jan Barendorf. Place Sense werte dagegen GPS-Daten aus, die deutlich präziser seien – bis auf 150 Meter genau. Diese Daten stammen aus Apps, deren Besitzer einer anonymisierten Auswertung zugestimmt haben. Für die Auswertung zur Flaniermeile hätten rund 150.000 Smartphones Informationen beigetragen.
Der Grünen-Politiker Stefan Lehmkühler, ein Verfechter der Flaniermeile, zeigte sich unbeeindruckt. In der Regel stammen viele GPS-Daten aus Autos oder von Apps, die beim Autofahren genutzt werden: „Der Rückgang zeigt vor allem, dass in diesem Bereich weniger Auto gefahren wird“ – was nach der Sperrung kein Wunder sei. Die Probleme des Einzelhandels hätten nichts damit zu tun: „Es ist vor allem die Mall of Berlin in der Leipziger Straße, die der Friedrichstraße das Wasser abgräbt.“
Von 46 Firmen lehnen 34 das Pilotprojekt ab
Anja Schröder, die seit 16 Jahren das Weinhaus Planet Wein in der Charlottenstraße betreibt, sieht das anders. Dass es vielen Betrieben nicht gut gehe, liege an dem Pilotprojekt. Die Unternehmer seien „frustriert“, viele meldeten Umsatzverluste. 15 Geschäfte seien geschlossen worden, in fünf weiteren Fällen denken die Inhaber über einen Wegzug nach. Als Schröder mit einem Fragebogen durch die Läden zog, war das Ergebnis eindeutig: „Von 46 befragten Unternehmen stehen 34 dem Versuch negativ gegenüber. Für neun Filialen hat sich kaum etwas oder nichts verändert, ein Unternehmen wollte sich nicht äußern. Nur zwei Filialen äußerten sich positiv.“
Wie berichtet, fordert das Bündnis Rettet die Friedrichstraße den sofortigen Stopp des Verkehrsversuchs – und ein Gespräch mit Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Nötig sei ein Gestaltungswettbewerb, sagte Annette Greiner-Bäuerle. Ein Vorschlag wäre, dass der gesperrte Abschnitt als Einbahnstraße wieder für Autos geöffnet wird.
Senat will Fußgänger in den Mittelpunkt stellen
„Auch wir wollen die Friedrichstraße verbessern“, entgegnete Jan Thomsen, Sprecher der Mobilitätssenatorin, am Montagachmittag. „Der Verkehrsversuch ist abgeschlossen. Unsere Zahlen zeigen, dass er keineswegs gescheitert ist, aber er ist natürlich auch nicht vollendet. Die Ergebnisse werden in Kürze vorgestellt, noch Anfang Mai.“ Ziel des Verkehrsversuchs war es, die Fußgänger in den Mittelpunkt zu stellen und eine echte Flaniermeile zu schaffen. „Das ist bisher nicht umgesetzt“, so Thomsen. „Klar ist auch, die endgültige Lösung muss das Umfeld bis hin zum Gendarmenmarkt einbeziehen. Dieser Raum hat noch nicht sein endgültiges Gesicht. Bis es soweit ist, werden wir kurzfristig Verschönerungsmöglichkeiten nutzen.“ Es werde weitere Gespräche geben.




