Berlin - Zwei Hilferufe aus Berlin, einer aus Lichtenberg und einer vom Stadtrand. Beide kommen aus Großkliniken, von Maximalversorgern in privater Trägerschaft. Der eine Hilferuf stammt von einer Pflegefachkraft in der Kinder- und Jugendmedizin, der andere von einer Hebamme in der Geburtshilfe. Beide sagen, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann, weitergehen darf. Dass sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr hinnehmen, weil sie um ihre Patienten fürchten, um Kinder, Mütter, Babys. „Wir haben nicht mehr genug erfahrenes Personal, weil man alle erfahrenen Pflegekräfte gehen ließ und die freien Stellen nicht alle wieder besetzt hat“, sagt die Krankenschwester aus dem Sana-Klinikum Lichtenberg. Die Hebamme berichtet: „Es ist der Punkt erreicht, an dem etwas passieren muss. Teilweise haben Frauen fast allein entbinden müssen. Das frustriert und macht wütend.“
Die Corona-Pandemie treibt das Gesundheitswesen an die Belastungsgrenze. Sie überfordert ein System, das allerdings schon vor der Ankunft von Sars-CoV-2 stark gefordert war, weil es verschlankt, auf Kostenoptimierung getrimmt ist. Besonders deutlich wird das in der Geburtshilfe und der Kinder- und Jugendmedizin, zwei Bereichen der Daseinsvorsorge, in denen marktwirtschaftliche Prinzipen nicht funktionieren.
Geburten haben Konjunktur, mal mehr, mal weniger. Die Behandlung eines Kindes wiederum lässt sich in keinen festen Takt einpassen. Ein MRT bei einer Fünfjährigen zum Beispiel kann ein zeitraubendes Unterfangen sein. Personal muss auch in der Flaute vorgehalten werden, um bei Bedarf sofort bereitzustehen. Die Krankenkassen jedoch zahlen nach Fallpauschalen, den DRGs. Nur die am Patienten erbrachten Leistungen werden finanziert.
Private Träger sind zudem ihren Eigentümern verpflichtet, müssen stärker auf Effizienz achten, als es vielleicht kommunale Krankenhausunternehmen tun. Der Sana-Konzern etwa erwirtschaftete laut Statista 2020 einen Gewinn nach Steuern von knapp 60 Millionen Euro. Fresenius mit seinen Helios-Kliniken will das Betriebsergebnis bis 2023 um fünf bis neun Prozent pro Jahr steigern. Geschäftsführer Stephan Sturm verhieß den Aktionären im vergangenen Februar eine gute Zukunft: „Ausdruck davon ist die 28. Dividendenerhöhung in Folge, die wir nun vorschlagen.“
Berliner Hebamme fordert mehr Personal
Als Beschäftigte in einem privatwirtschaftlichen Klinikbetrieb setzt die Berliner Hebamme andere Prioritäten, sie fordert: „Mehr Personal.“ Sie sagt, dass die chronische Unterbesetzung mehrfach der Geschäftsführung ihres Hauses gemeldet worden sei. „Es hieß daraufhin immer nur, es stehe kein zusätzliches Personal zur Verfügung.“ Das Arbeitspensum werde nicht an die ausgedünnte Belegschaft angepasst. „Aus Angst vor finanziellen Einbußen werden Teilbereiche nicht gesperrt. Oft sind alle Kreißsäle belegt, dennoch werden weiter Frauen aufgenommen.“ Im Sommer seien Mütter und ihre Säuglinge auf fachfremde Stationen verlegt worden.
Wahrscheinlich wird die Zahl der Geburten 2021 in diesem Krankenhaus gegenüber dem Vorjahr um rund zehn Prozent gestiegen sein. Der Streik bei der Charité und Vivantes erhöhte das Aufkommen an Geburten zusätzlich, weil Schwangere von dort an andere Kliniken verlegt wurden. Das Angebot an Personal aber hält mit der Nachfrage durch Hochschwangere nicht Schritt, zumal sich immer wieder Hebammen wegen körperlicher und psychischer Erschöpfung krankmelden. „Erst als Kolleginnen gesagt haben, dass sie auf der Stelle gehen, weil sie die Situation für unverantwortlich halten, wurde tatsächlich auch mal ein Kreißsaal gesperrt.“
In Deutschland verfügen 845 Krankenhäuser über eine Geburtshilfe. Ihre Zahl hat abgenommen, auch durch eine staatlich geförderte Konzentration auf größere Standorte. Nach einer Auswertung des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung waren von 36 Abteilungen, die seit 2016 landesweit geschlossen wurden, fast die Hälfte Abteilungen für Geburtshilfe und Gynäkologie. Über eine Kinderstation verfügen in Deutschland lediglich 339 Kliniken.
Viele Pflegekräfte hören auf, wenige neue kommen hinzu
„Wir haben fünf Kinderstationen“, sagt die Pflegekraft aus dem Lichtenberger Klinikum, das aus dem Oskar-Ziethen-Krankenhaus hervorgegangen ist. Angesiedelt sind dort Abteilungen für Neonatologie und Intensivmedizin, auch Zentren für Diabetes und Mukoviszidose. „Wir haben uns auf chronisch kranke Kinder spezialisiert, auf Langzeit- und Heimbeatmung“, sagt die Krankenschwester. „Wir müssen immer wieder dauerhaft Termine absagen, weil wir so viele akut kranke Kinder haben.“
Der personelle Schwund sei teilweise enorm, berichtet sie. Auf der Intensivstation etwa seien innerhalb von zwei Jahren zehn Kolleginnen gegangen. „Drei sind neu gekommen, wovon zwei eingearbeitet werden müssen. Die dritte Kollegin fällt längerfristig aus.“ Der Krankenstand sei insgesamt hoch. „Die Kinder-Rettungsstelle wird wegen Personalmangels ausgelagert in die Erwachsenen-Rettungsstelle.“
Sie haben eine informelle Gruppe gegründet. „Von jeder Station jeweils ein, zwei Schwestern und Ärzte. Wir haben die Probleme aufgeschrieben und waren bei den verschiedenen Instanzen. Seit Sommer wird viel geredet, aber es ändert sich nichts.“
Das Sana-Klinikum teilt auf Nachfrage mit, man befinde sich „derzeit in intensiven und konstruktiven Gesprächen mit dem Betriebsrat und der Pflegedirektion, aber auch mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus ganz unterschiedlichen Bereichen, um gemeinsam zukunftsfähige Lösungen für die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten und die Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden zu finden“. Intensiv werde auch nach Personal gesucht und parallel geprüft, welche organisatorischen Prozesse angepasst und wie kurzfristige Verbesserungen umgesetzt werden könnten. „Erste Maßnahmen befinden sich auch bereits in der Umsetzung“, schreibt Sana. „Wir haben gleichzeitig Bettenkapazitäten nach den geltenden Reglungen für Personaluntergrenzen reduziert.“
Auf ihrer Station, sagt die Kinderkrankenschwester, seien vier Betten seit April abgemeldet, zwischenzeitlich sogar zwei weitere. „Wenn eine von uns krank wird, arbeitet eine andere länger oder kommt an ihrem freien Tag“, erzählt sie. „Dafür gibt es einen kleinen Aufschlag aufs Bruttogehalt, aber wir brauchen die freien Tage ja zur Erholung.“ Wer jahrelang im Schichtdienst arbeite, „ist irgendwann ausgepowert“.
Sie haben eine Umfrage gestartet, die Pflegekraft und ihre Initiative. 36 Adressen hatten sie von denjenigen, die während der vergangenen drei Jahre gegangen sind. 20 gaben an, dass sie weiterhin in der Pflege arbeiten, „ambulant oder stationär, nur eben nicht mehr bei uns“. Mehr als 20 Schwestern hätten zuvor Wünsche geäußert. „Dass sie keinen Nachtdienst mehr machen oder Stunden reduzieren möchten. Bei einem Arbeitsplatzwechsel wären sie geblieben, schrieben sie, doch ihnen sei nichts angeboten worden.“
„Wie alle Gesundheitsdienstleister in der Stadt unternehmen wir bereits seit geraumer Zeit enorme Anstrengungen, mehr Personal in der Pflege auszubilden und anzustellen“, teilt Sana gegenüber der Berliner Zeitung mit: „Wir werben am Sana Klinikum Lichtenberg mit einem Konzerntarifvertrag mit 38,5 Stunden/Woche bei Vollzeit, variablen Teilzeit- und Schichtmodellen, Unterstützung beim Umzug, der Zuzahlung für Kinderbetreuung, einer doppelten Nachtschichtbesetzung, Ausgleichszahlungen (zum Beispiel fürs Einspringen), kostenloser Unterstützung durch unseren Familienservice (zum Beispiel Beratung zu Pflegefällen in der Familie, zur Notbetreuung bei Bedarf, bei der Vermittlung von Kinderbetreuungsplätzen oder in persönlichen Krisensituationen), der Auszahlung einer Erfolgsbeteiligung und mit einem Kindersommerferienlager mit Kostenübernahme.“ Die Kinderkrankenschwester sagt: „Von der Pflegedienstleistung hören wir, dass erst Geld erwirtschaftet werden muss, bevor es ausgegeben werden kann.“
Linke-Abgeordneter Ates Gürpinar fordert Rückkehr zur Selbstkostendeckung
Ates Gürpinar sind solche Aussagen vertraut. Der Bundestagsabgeordnete vertritt die Linke im Gesundheitsausschuss, er sagt: „Die Corona-Pandemie hat es noch einmal deutlich gemacht: Ein Systemwechsel in der Krankenhauspolitik ist dringend nötig: Wir müssen uns am Gemeinwohl orientieren und den ökonomischen Druck von den Krankenhäusern nehmen.“ Gürpinar fordert eine Rückkehr zur Selbstkostendeckung, er sagt, die Behauptung, diese führe zu einer schlechteren Versorgung, sei falsch. Er sieht in den DRGs ein Kernproblem. „Attraktiv sind die Fallpauschalen nur für profitorientierte Träger. Sie erhielten die Möglichkeit, ‚defizitäre‘ Häuser zu übernehmen, oft zu einem Spottpreis, und haben sie dann auf Profit getrimmt. Wer mit Krankenhäusern Profite macht, tut dies auf Kosten der Versorgung von Patienten und auf dem Rücken der Beschäftigten, denn eine Gewinnspanne wird natürlich nicht in die Berechnung der DRGs einbezogen.“
Zweifel an Ankündigung der Bundesregierung, DRGs abzuschaffen
Die neue Bundesregierung kündigt in ihrem Koalitionsvertrag an, „für eine bedarfsgerechte auskömmliche Finanzierung für die Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe“ zu sorgen. Und der Bundesrat verständigte sich am 17. Dezember darauf, dass die DRGs weiterentwickelt werden müssten. Linke-Politiker Gürpinar bleibt skeptisch. „Dass in der Pädiatrie und der Geburtshilfe die Fallpauschalen tatsächlich durch eine andere Finanzierung abgelöst werden, bezweifle ich“, sagt er: „Die Aussage im Koalitionsvertrag ist dafür zu schwammig. Wichtig ist, dass diese Bereiche ihre Kosten vollständig refinanziert bekommen, damit die Schließungen aus betriebswirtschaftlichen Gründen ein Ende haben.“
Es wird Zeit, dass die Politik verspieltes Vertrauen zurückgewinnt, allen voran bei den Pflegekräften, sagt Gürpinar. Sie bräuchten „die glaubhafte Aussicht, dass sich ihre Arbeitsbedingungen mittelfristig spürbar verbessern, sie tatsächlich entlastet werden und ihren Beruf so ausüben können, wie sie es gelernt haben und wie es ihr eigener Anspruch ist“.







