Kommentar

Flüchtlinge: Berlin drückt sich vor der Ausrufung des Katastrophenfalls – noch

Wenn der Bund jetzt nicht schnell die Verteilung und Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge zur nationalen Aufgabe macht, geht das Land Berlin in die Knie.

Flüchtlinge aus der Ukraine kommen am Berliner Hauptbahnhof an.
Flüchtlinge aus der Ukraine kommen am Berliner Hauptbahnhof an.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Berlin ächzt unter der schieren Zahl der Menschen, die Tag für Tag dem Tod und der Zerstörung in ihrer ukrainischen Heimat entfliehen und in der Stadt Zuflucht suchen. Gründe für den Ansturm, den der Senat die größte Flüchtlingsbewegung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg nennt, gibt es zur Genüge. Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands. Wo, wenn nicht 80 Kilometer hinter der polnischen Grenze, kann man Hilfe bekommen?

So kommen seit Tagen Zehntausende Menschen in der Stadt an. Davon müssen im Moment etwa Tausend in landeseigenen Notunterkünften untergebracht werden. Pro Tag.

Ist das schon eine Katastrophe? Kann die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen überhaupt eine Katastrophe sein? Und was bedeutet der Begriff Katastrophe? Ist alles am Ende nur eine Frage des Images?

Es ist eine Frage der Politik. Nicht umsonst war es Berlins größte Oppositionspartei, die CDU, die als Erste forderte, der Senat solle den Katastrophenfall ausrufen. Manches wäre dann tatsächlich einfacher, etwa die Konzentration vieler Kräfte auf das eine Thema: die Unterbringung der Flüchtlinge.

Doch es steckt auch eine Unterstellung dahinter, die Haltung, das Gefühl, dass es der rot-grün-rote Senat nicht packt. Zustände wie am Hauptbahnhof, wo die erste Zeit lang ausschließlich Freiwillige die Ankommenden betreuten, scheinen das zu belegen.

Noch hält der Senat dagegen. Noch sei er in der Lage, die Aufgabe mit eigenen Kräften zu bewältigen, sagt die Regierende Bürgermeisterin. So könnte sie zum Beispiel auch jetzt leer stehende Immobilien von Privaten beschlagnahmen, um dort von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen – und das werden die Flüchtlinge schon bald sein – unterzubringen. Der Senat könnte sogar jeden zum Hilfseinsatz verpflichten, wenn er die Notwendigkeit nachweist.

Franziska Giffey belässt es vorerst bei einem Brief an die öffentlichen Bediensteten, einem Appell. Allein 400 werden gebraucht, um an dem neuen gigantischen Ankunftszentrum im alten Flughafen Tegel, das Ende der Woche bereit sein soll, täglich mehr als 10.000 Menschen in Empfang zu nehmen. Zunächst drei Wochen lang werde man diese zusätzlichen Kräfte für einen 3-Schicht-Betrieb 24/7 benötigen, sagt die Regierende Bürgermeisterin. Doch wird so ein Appell ausreichen?

Doch noch ist offenbar ein wenig Zeit, noch gibt es selbst in der Opposition keine Einigkeit darüber, ob ein Katastrophenfall vorliegt. Die FDP spricht von Populismus. Der Senat müsse alles in seinen jetzigen Möglichkeiten tun, um die Lage zu bewältigen.

Doch des Betonung des „noch“ beweist: Lange geht das nicht mehr gut. Und so richten sich alle Blicke aus Berlin wieder einmal auf die – jawohl – Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag. Dort müssen sich die Landesregierungen und der Bund verbindlich darauf verständigen, dass sie ihre Hauptstadt nicht alleinlassen, dass sie Berlin helfen. Wieder einmal, wie so häufig in der Geschichte.

Im Berliner Abgeordnetenhaus wird emsig an gemeinsamen Beschlussfassungen gewerkelt. In einem Entwurf, der von fünf der sechs Fraktionen – die AfD wird nicht angefragt – getragen werden soll, wird der Bund aufgefordert, bei dieser gesamtstaatlichen Aufgabe personell, sachlich und finanziell zu unterstützen. Es müssten verbindliche Vorgaben zur Registrierung und gesamtdeutschen Verteilung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gemacht und durchgesetzt werden. Der Bund müsse diese Kosten und die für die Unterbringung und Versorgung der Kriegsflüchtlinge übernehmen. Und vor allem müsse er diese Aufgabe koordinieren, steuern und als nationale Aufgabe umsetzen.

Das ist alles richtig. Sollte aber der Bund die Unterbringung und Verteilung der Flüchtlinge nicht zur nationalen Aufgabe allergrößter Tragweite erklären, wird Berlin gar nicht mehr anders können, als den Katastrophenfall auszurufen.

Selbst das Datum dafür dürfte schon feststehen. Am Sonnabend trifft sich der Senat wegen der Fortsetzung der Corona-Schutzmaßnahmen zu einer Sondersitzung. Dann steht sicher auch die Katastrophenfall-Frage auf der Tagesordnung.

Einen kleinen Lichtblick gibt es immerhin: Am Montag kamen am Hauptbahnhof 4650 Personen mit Zügen an, am Zentralen Omnibusbahnhof waren es 600 per Bus. Das ist nur noch etwa die Hälfte dessen, was in den Tagen zuvor gezählt wurde. Doch es ist natürlich viel zu früh, um aufzuatmen.