Mobilität

Experte: „Von dem neuen Ticket werden vor allem Wohlhabende profitieren“

Das 9-Euro-Ticket hätte es niemals geben dürfen, sagt der Bahnexperte Christian Böttger. Er hält auch das Nachfolgeangebot der Ampelkoalition für falsch.

Der Bahnhof Ostkreuz soll geräumt werden.
Der Bahnhof Ostkreuz soll geräumt werden.Benjamin Pritzkuleit

Das Sommermärchen ist vorbei. Das 9-Euro-Monatsticket, mit dem man bundesweit  den Nahverkehr nutzen konnte, erhält keine Neuauflage. Am Wochenende hat die Ampelkoalition ein Nachfolgeangebot angekündigt. Doch wird es überhaupt kommen? Und welchen Menschen wird es nützen? Der Bahnexperte Christian Böttger, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, zeigt sich skeptisch.

Berliner Zeitung: Herr Böttger, die Ampelkoalition hat sich darauf geeinigt, dass nach dem großen Erfolg des 9-Euro-Tickets ein neuer bundesweiter Fahrschein für den Nahverkehr eingeführt wird, den es als Jahresabonnement geben soll. Wie bewerten Sie die Einigung?

Christian Böttger: Von einer Einigung würde ich noch nicht sprechen. Richtig ist, dass am Wochenende vereinbart wurde, dass der Bund jährlich anderthalb Milliarden Euro für ein solches Ticket zur Verfügung stellt, sofern die Bundesländer mindestens den gleichen Betrag beisteuern. Wie weit das Geld reichen wird, ist aber noch nicht klar. Vor allem aber stehen die Länder in der Pflicht, für eine Kofinanzierung zu sorgen. Ich schließe nicht aus, dass sich das als Hindernis erweisen wird, das zum Scheitern des Vorhaben führen könnte.

Ein Scheitern – warum ist das zu befürchten?

Einige Bundesländer werden sich schwertun, das Geld bereitzustellen. Damit meine ich vor allem Flächenländer wie Brandenburg, wo viele Bürger mangels eines guten Nahverkehrsangebots auch weiterhin auf das Auto angewiesen sind. Dort sehe ich nur wenig Bereitschaft, Berlinern und anderen Großstadtbewohnern billige Pendlerkarten und Bahnausflüge zu finanzieren. In diesen Bundesländern ist man bereits damit beschäftigt, die durch die Energieverteuerung entstandenen Finanzlöcher zu stopfen und das jetzige Angebot für die Fahrgäste aufrechtzuerhalten.

Wenn tatsächlich wie versprochen ein bundesweites Nahverkehrsticket für einen Preis zwischen 49 und 69 Euro pro Monat einführt wird: Wie würden Sie ein solches neues Abo-Angebot bewerten?

Sehr kritisch. Ein solches Angebot fördert zum einen problematisches Mobilitätsverhalten und wird, wenn man es nach der sozialen Wirkung einteilt, eher die Mittelschicht unterstützen als die Einkommensschwachen. Der Preis des neuen Tickets wird ungefähr auf dem Niveau heutiger Monatskarten innerhalb der Städte liegen – aber es ist günstiger als Tickets aus dem Umland in die Stadt. Vor allem die Bewohner des Speckgürtels würden also entlastet. Das Ticket wäre aber auch ökonomisch und finanzpolitisch nicht sinnvoll, weil es dazu anregt, dass weitere Steuerzahler aus großen Städten wie Berlin ins Umland ziehen. Ich finde es schade, dass diese Erkenntnis gerade bei den Grünen, die Fernpendeln und Zersiedelung bislang kritisch sahen, nicht mehr die Politik zu bestimmen scheint.

Ein Förderprogramm für die Mittelschicht: Wie kommen Sie darauf?

Die Menschen, die aus der Stadt hinaus in den Speckgürtel ziehen, gehören in der Regel nicht zu den sozial Schwachen. Viele von ihnen können sich ein Eigenheim leisten, und sie konnten bislang die Kosten fürs Pendeln tragen. Diese Menschen würden gezielt entlastet, wenn Fernpendeln preiswerter wird. Von dem neuen Ticket werden vor allem Wohlhabende profitieren. Die bisherigen Differenzierungen in unserem Fahrpreissystem, die zum Beispiel zu Recht dazu führen, dass Tickets für Fahrten innerhalb der Stadt preiswerter sind als Tickets aus der Stadt in das Umland, fallen weg. Das gilt auch für andere Unterscheidungen, bei denen es nicht um die Entfernung geht, die aus meiner Sicht aber ebenfalls sinnvoll sind. Mit Fahrkarten, die an Werktagen erst ab 9.00 oder 10.00 Uhr gelten, lässt sich das Angebot steuern. Sie würden obsolet, auch diese Steuerungsmöglichkeit gäbe es nicht mehr. Ich glaube, dass die politisch Verantwortlichen auch über weitere Fallstricke nicht nachgedacht haben.

Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel, das mir als Hochschullehrer sofort einfällt, sind die Semestertickets. Derzeit müssen mehrere Millionen Studenten in Deutschlands verpflichtend ein Nahverkehrsticket erwerben. Dabei ist der Anteil, der lieber Auto als Bus und Bahn fährt, jetzt schon groß. Unter den neuen Bedingungen würde sich ein solches Pflichtticket nicht mehr aufrechterhalten lassen, weil die jetzigen Tarife zum Teil deutlich über dem avisierten Preisrahmen liegen würden. Damit ist absehbar, dass der Nahverkehr bei den Studenten viele Kunden verlieren würde. Ein anderes Thema ist die Einnahmeaufteilung. Wenn ein System der Fahrgeldverteilung, das über Jahrzehnte entstanden ist, innerhalb weniger Monate zerschlagen und neu aufgesetzt werden muss, ist zu befürchten, dass vor allem kleinere Nahverkehrsbetriebe am Ende mit weniger Geld dastehen werden.

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Fachmann für Verkehr
Christian Böttger ist Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Der Industriekaufmann hat an der Universität Kiel und an der Freien Universität (FU) Berlin studiert. An der FU erwarb Böttger seine Promotion. Sein Hauptthema ist der Bahnverkehr. Der gebürtige Kieler hat zahlreiche Beiträge und Gutachten zu aktuellen Themen befasst, er berät Verbände und Politiker. 

Nach dem Ende des 9-Euro-Tickets sind die Fahrgäste wieder mit einem kundenfeindlichen Flickenteppich aus mehr als 70 Verkehrsverbünden und fast 50 Tarifgemeinschaften konfrontiert. Wie wird sich das Vorhaben, das jetzt in Angriff genommen wird, auf sie auswirken?

Das jetzige System hat sich über die Jahre zu einer Überkomplexität entwickelt. Zudem haben die Parteien Zugriff auf viele Posten und Pöstchen. Da erwarte ich einigen Widerstand. Doch ich würde es nicht durchweg als kundenfeindlich bezeichnen. Der Flickenteppich gehört nicht zu den größten Problemen des öffentlichen Verkehrs in Deutschland. Sicher werden da und dort hohe Übergangstarife fällig, wenn Verbundgrenzen überschritten werden. Doch die meisten Fahrgäste sind nicht davon betroffen, dass es viele Verbünde und Tarifgemeinschaften gibt. Politiker, die wahrscheinlich schon lange keine Bahn mehr von innen gesehen haben, bauschen die Probleme zu sehr auf. Ein großer Teil der Verbindungen kann heute bereits über den DB-Navigator gebucht werden.

Sie haben das 9-Euro-Ticket vor dessen Einführung im Juni als „großen Unfug“ bezeichnet und es auch danach kritisch gesehen. Bleiben Sie bei dieser Einschätzung?

Ja. Das 9-Euro-Ticket hätte nie eingeführt werden dürfen. Es hat das System drei Monate lang überlastet, insbesondere die Eisenbahn und ihre Mitarbeiter sind am Anschlag. Weil es Stammkunden nicht mehr schafften, in die überfüllten Regionalzüge hineinzukommen, blieben nicht wenige der Bahn fern. Ich kenne einige solcher Fahrgäste. Rollstuhlfahrer mussten drei Monate lang auf Mobilität verzichten, weil sie es ebenfalls nicht mehr in die Züge schafften. Nur sehr wenige Menschen stiegen vom Auto auf den Nahverkehr um. Unterm Strich müssen wir feststellen, dass der Bund 2,5 Milliarden Euro für nichts ausgegeben hat. Eine Summe, die deutlich über dem Betrag liegt, der in diesem Jahr für den Ausbau des Schienennetzes vorgesehen war. Das 9-Euro-Ticket war ein verantwortungsloser Umgang mit Steuergeld.

Ein Bus der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft unterwegs zwischen Annenwalde und Densow bei Templin. Auf dem Land hielt sich der Fahrgastzuwachs durch das 9-Euro-Ticket in Grenzen. 
Ein Bus der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft unterwegs zwischen Annenwalde und Densow bei Templin. Auf dem Land hielt sich der Fahrgastzuwachs durch das 9-Euro-Ticket in Grenzen. dpa/Patrick Pleul

Müssen wir also noch Jahrzehnte warten, die es braucht, um Anlagen und Zugangebot auf ein akzeptables Niveau zu bringen, bis man neue attraktive Preise einführen darf?

Ja, so ist es wohl. Und was „neue attraktive Preise“ anbelangt: Ich bin aus grundsätzlichen Erwägungen dagegen, Mobilität zum Nulltarif oder zu Minimalpreisen anzubieten. Zwar stößt der öffentliche Verkehr pro Kilometer im Schnitt tatsächlich nur ungefähr halb so viel Kohlendioxid aus wie der Autoverkehr. Doch auch er erzeugt das klimaschädliche Gas. Ich meine, dass Kosten der Mobilität von den Nutzern getragen werden müssen, Subventionen sehe ich kritisch. Für den öffentlichen Verkehr lassen sich Ausnahmen begründen, doch es sollte weiterhin einen Zusammenhang zwischen Preis und Leistung geben. Auch deshalb, damit die Unternehmen einen Anreiz behalten, ihrer Kundschaft gute Qualität zu liefern.

Der Luftverkehr genießt Steuererleichterungen, im privaten Kraftfahrzeugverkehr wird mit der Pendlerpauschale sowie Steuerermäßigungen bei Dienstwagen und Diesel die Belastung verringert. Warum sollen nicht auch die Nutzer des öffentlichen Verkehrs unterstützt werden?

Ich würde es so formulieren: Es sollte aktuell nicht darum gehen, öffentlichen Verkehr für die Nutzer billiger zu machen. Sondern darum, den privaten Autoverkehr zu verteuern. Wenn es wirklich darum geht, Menschen mit geringem Einkommen in der aktuellen Situation zu entlasten, ließe sich das auch anders organisieren. Vielleicht könnte man jedem dieser Haushalte zwei oder drei Quer-durchs-Land-Tickets zukommen lassen.

Was glauben Sie: Zu wie viel Prozent ist es wahrscheinlich, dass wir Anfang 2023 tatsächlich ein bundesweites Nachfolgeangebot zum 9-Euro-Ticket bekommen?

Politiker von Bund und Ländern haben sich weit aus dem Fenster gelehnt. Doch nun geht es um weitreichende finanzielle und komplizierte fachliche Fragen, dabei werden erhebliche Probleme zutage treten. Ich würde nicht darauf wetten, dass das Ticket tatsächlich kommt. Die Erfolgschance ist fifty-fifty.

Das Gespräch führte Peter Neumann.