Selbstversuch

Ein Abschied von der Telefonzelle: Wie funktioniert das nochmal?

Unsere Autorin ist 1991 geboren und hat das Zeitalter der Telefonzelle verpasst. Sie benutzt zum letzten Mal ein Exemplar und wird es nicht vermissen.

Die Telefonzelle an der Ecke Wildenbruch- und Harzerstraße ist ein Geldschlucker.
Die Telefonzelle an der Ecke Wildenbruch- und Harzerstraße ist ein Geldschlucker.Gerd Engelsmann

Mit der rechten Hand scrolle ich durch meine Kontakte im Smartphone, mit der linken Hand halte ich mir den rosafarbenen Hörer ans Ohr. Fünfzig Cent hat die Telefonzelle in der Wildenbruchstraße schon verschluckt, ohne etwas anzuzeigen oder das Geld wieder rauszurücken. Ich habe einen Euro nachgelegt und komme mir vor wie ein Boomer, dem man ein Handy mit neuen Funktionen in die Hand drückt – eigentlich wirkt alles simpel, aber ich bin gestresst: Erst die Münze oder erst der Hörer? Wo ist das Pluszeichen? Und überhaupt, wer von meinen Freunden würde morgens und bei unbekanntem Anrufer rangehen?

Beim dritten Versuch tippe ich die geschäftliche Nummer meines Nachbarn ein. Er meldet sich mit seinem vollen Namen und einem fragenden Unterton in der Stimme. Ihm hat das Display eine „private Nummer“ angezeigt, erzählt er. Und dann ist das Telefonat auch schon wieder vorbei. Der Euro ist nach einer Minute und 25 Sekunden weg.

Das war wohl sowieso mein allerletztes Gespräch in einer Telefonzelle. Am Montag deaktiviert die Telekom die Münzfunktion der bundesweit ungefähr 12.000 verbliebenen Exemplare, wie Telekom-Sprecher Adrian Sanchez der Berliner Zeitung mitteilte. Voraussichtlich bis Ende Januar ist es dann noch möglich, die Geräte mit einer Telefonkarte zu nutzen. Danach sollen sie ganz abgeschafft werden.

Kein Wunder. Ich frage mich, wann Menschen ein öffentliches Telefon benutzen. Und wie? Ein Telefonbuch liegt in den Telefonzellen längst nicht mehr. Mein Nachbar sagt, er dachte bei dem Wort „Telefonzelle“, es ginge um einen Notfall. Ich hätte mich ausgesperrt oder es sei etwas Schlimmes passiert. Doch auch dann würde ich eher einen Fremden fragen, ob ich sein Handy benutzen darf. Und in diesem Fall hätte ich wahrscheinlich über Social Media Kontakt aufgenommen, weil ich keine Nummern auswendig kenne. Die tippt man ja nun schon lange nicht mehr ein.

Zeitreisen mit Jägermeisterflasche und Bücherregal

Regionale Daten zur Häufigkeit der Nutzung von Telefonzellen stellt die Telekom nicht bereit. In einem Blogartikel verweist das Unternehmen aber auf die fehlende Wirtschaftlichkeit: Fast jede dritte Telefonzelle in Deutschland habe im letzten Jahr keinen einzigen Euro Umsatz gemacht. Sprecher Sanchez sagt, dass die Abschaltung der „ungenutzten“ Technik zwischen sechs und 15 Millionen Kilowattstunden jährlich einspare. Das entspreche dem Stromverbrauch von mehreren Tausend Wohnungen.

Misstrauisch schnüffle ich, bevor ich meinen Rucksack im Inneren der Telefonzelle abstelle. Ich habe gelesen, dass sie manche Leute gerne als Toilette nutzen. Zwei der unteren Scheiben sind eingeschlagen, eine Jägermeisterflasche liegt in der Ecke, überall Graffiti und Filzstift-Kritzeleien sowieso. Das Gespräch in der Kabine fühlt sich ein bisschen an wie eine Zeitreise. Und das, obwohl ich mich kaum daran erinnere, die Dinger je benutzt zu haben.

Nostalgisch werde ich nur beim Gedanken an die gelben Kabinen. In meiner Kindheit dienten sie als Miniaturspielplätze und Zuflucht vor dem Regen. Wir mussten niemanden anrufen, wir haben damals einfach an Haustüren geklingelt und uns an Verabredungen gehalten. Telefonieren, das war etwas für Erwachsene. Die Schlangen vor den Telefonzellen kenne ich nur aus Erzählungen und auch das Problem der ausgerissenen Seiten in den Telefonbüchern. „Fass dich kurz“, sollen die Leute damals gemurrt haben.

Mit meinen 31 Jahren erlebte ich nur zweckentfremdete Telefonzellen als Menschenmagnet. In Köln hatte sich ein Obdachloser im Exemplar vor meiner Wohnung eingerichtet. Und in Berlin sind sie als Büchertauschbörsen und Telediskos bekannt.

Zum Abschied werfe ich also noch einen Blick in die Zukunft der Telefonzelle. Oder eher Gegenwart, wer weiß, wie lange es noch Bücher gibt. Die Baugenossenschaft Berolina hat eine Telefonzelle zum regen- und windgeschützten Bücherregal umfunktioniert und in der Schmidstraße aufgestellt. Ein Gegenstück zur echten Telefonzelle: Die Außenwände sind bunt bemalt, das Innere sauber.

Harry Schulz freut sich über das Bücherregal in seiner Nachbarschaft.
Harry Schulz freut sich über das Bücherregal in seiner Nachbarschaft.Gerd Engelsmann

Ein grauhaariger Herr hat ein Buch auf seinen Rollator gelegt – die Märchen aus „Tausendundeine Nacht“. Beim Stöbern braucht Harry Schulz Hilfe mit der Tür, für seine 90 Jahre wirkt er aber noch ganz fit. Schulz kommt öfter zum Büchertauschen vorbei, das Regal liegt auf seinem Weg zwischen betreutem Wohnen und Supermarkt. Das letzte Telefonat in einer solchen Zelle, an das er sich erinnern kann, liegt Jahrzehnte zurück. „Kurz nach der Wende habe ich meine Cousine in Mariendorf angerufen und ihr gesagt, dass meine Schwester gestorben ist“, sagt er. Während wir plaudern, legt eine Frau mit Kind zwei Bücher dazu und eine ältere Dame hat einen ganzen Einkaufstrolley voller Bücher mitgebracht. Die restlichen 12.000 Telefonzellen sollen dann bis 2025 ab- oder umgebaut sein.