„Letzte Generation“

Klimaaktivistin weint vor Gericht: „Wir rauschen auf einen Eisberg zu“

Der Druck auf die Verfahren zu den Straßenblockaden der „Letzten Generation“ ist groß. Die angeklagte Frührentnerin verzweifelt an der Umweltzerstörung.

Klimaaktivisten blockieren eine Berliner Autobahnabfahrt im morgendlichen Berufsverkehr.
Klimaaktivisten blockieren eine Berliner Autobahnabfahrt im morgendlichen Berufsverkehr.www.imago-images.de

Die Angeklagte wirkt verzweifelt. Sie sitzt auf ihrem Stuhl vor Gericht und schluchzt kurz laut auf. Dann weint sie minutenlang leise weiter. Nicht, weil sie hier sitzt und später verurteilt werden soll, sondern wegen der Art, wie unsere Gesellschaft konsumiert. In einem Moment kann sie ihre Gefühle ganz klar benennen und tut das auch: „Angst, Trauer, Ohnmacht und Hilflosigkeit.“

Sibylle E. ist wegen Nötigung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr angeklagt, es ist eines von über 140 Verfahren dieser Art. Die 56-Jährige hat an Protesten der „Letzten Generation“ teilgenommen und sich dreimal auf die Straße gesetzt, wie sie später zugibt. Festgeklebt habe sie sich nicht.

Als Ernährungswissenschaftlerin sei ihr „glasklar“, dass allein die Art, wie wir Lebensmittel produzieren, unsere Lebensgrundlage zerstört. Sibylle E. sagt das so zur Richterin im Amtsgericht am Tiergarten. Und sie spricht vom schlechten Gewissen, das sie der jüngeren Generation und vor allem ihren beiden Enkeln gegenüber hat. Obwohl die Frührentnerin in ihrer Heimat im Schwarzwald ökologische Landschaftspflege betreibt, fühlt sie sich mitverantwortlich für die Klimakatastrophe.

„Das ist nicht meine Protestform“, sagt Sibylle E. und überzeugt damit Richterin und Staatsanwalt, dass sie sich nicht noch einmal auf die Straße setzen werde. „Bei den jungen Menschen geht es tatsächlich ums Eingemachte“, sagt sie. Sie bewundere und verstehe das, sehe ihre Aufgabe aber eher in der „Wiederherstellung von Biotopen“.

Taschentuch von der Richterin und Verständnis vom Staatsanwalt

Der politische Druck auf die Verfahren zu den Straßenblockaden ist hoch. Eine Radfahrerin ist verunglückt, ein spezielles Rettungsfahrzeug kam nicht rechtzeitig zum Unfallort, um sie zu befreien. Es ist allerdings nicht klar, ob ihr Tod auf diese Verzögerung zurückzuführen ist. Am Rande der Verhandlung sagt der Verteidiger, wegen des hohen politischen Drucks werde der Staatsanwalt in Berufung gehen, sollte das Urteil zu milde ausfallen. Die Richterin wolle der Forderung des Staatsanwalts deshalb entgegenkommen und halte 50 Tagessätze à 15 Euro für angemessen, 750 Euro also. Die Angeklagte erwidert, das gehe in Ordnung. Es wirkt, als habe man sich bereits im Vorfeld geeinigt.

Sibylle E. ist mit dem Nachtzug angereist, sie wirkt aber hellwach. Sie sei eigentlich nicht aufgeregt, sagt sie der Berliner Zeitung im Vorfeld. Es werde nichts Nennenswertes passieren, meint sie und zuckt mit den Schultern. Ihre Sorge gelte allein der Umweltzerstörung, sie fühle sich so hoffnungslos. „Das Orchester spielt weiterhin blöde Musik“, sagt sie. „Und wir rauschen auf den Eisberg zu.“ Auch der Richterin gegenüber äußert Sibylle E., dass ihr in diesem Sommer klar geworden sei, dass etwas aus dem Ruder läuft.

Richtig emotional wird die Klimaaktivistin, als sie von einer Grüninsel bei der Invalidenstraße erzählt. Sie deutet mit den Händen die Größe an. Dort stehe ein Schild, das über Biotope und Kleinstlebewesen aufklärt. „Und dann liegt dort Müll“, Sibylle E. schluchzt laut. Die Richterin reicht der Angeklagten ein Taschentuch.

Ein Video zeigt, wie ein Polizist zügig auf die Aktivistin zugeht und sie von der Straße wegträgt. Die Autos müssen nicht plötzlich abbremsen, deshalb urteilt das Gericht, dass kein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr vorlag. Gegen die Angeklagte spricht aber die Wiederholung der Nötigung, wie Staatsanwaltschaft und Richterin vorbringen.

Die Richterin verurteilt Sibylle E., wie vom Verteidiger vorhergesagt, zu einer Gesamtstrafe von 50 Tagessätzen à 15 Euro. Die Angeklagte nickt, der Verteidiger behält sich vor, mit ihr über eine Revision zu sprechen. Er hatte eine „Gelbe Karte“ in Form einer Verwarnung mit Strafvorbehalt beantragt und hält einen Tagessatz von zehn Euro für angemessen, wegen der derzeit erhöhten Lebenshaltungskosten.

„Es wird immer ernster“, sagt die Richterin nach Urteilsverkündung. Wegen des Unfalls mit der Radfahrerin und wegen der Vielzahl der Verfahren. Der Staatsanwalt meint nach der Verkündung noch, er habe Verständnis für die Ziele, die Aktivisten müssten aber Protestformen ohne Straftatbestand finden. Schließlich seien sie doch so kreativ.