Das Kastanienblatt ist außen braun, als hätte jemand ein Feuerzeug an die Ränder gehalten. Dunkle Flecken versehen das Innere des Blattes mit einem Ausschlag. Derk Ehlert, Wildtierexperte und oberster Baumschützer beim Berliner Umweltsenat, pult im Volkspark Humboldthain an einer verfärbten Stelle des Blatts. Er fördert ein schwarzes Würmchen zutage. „Das ist die Kastanienminiermotte“, sagt Ehlert. Die Motte wird sich wie Aschenputtel im Märchen einmal verwandeln und ein Schmetterling sein. Bevor es so weit ist, frisst sie sich satt am Kastanienblatt.
Ehlert verteidigt das gefräßige Tier. Die Kastanienminiermotte sei genau wie der Borkenkäfer nicht die Ursache, sondern eher ein Vollstrecker des Baumsterbens. „Das Problem ist, dass die Bäume so schwach sind, dass sie so leicht befallen werden“, sagt Ehlert.
Der Experte streicht mit einem Finger über die nekrotischen Ränder des Kastanienblatts. Der Appetit der Motten habe nichts zu tun mit dem abgestorbenen Gewebe am Blattrand, erklärt der Experte. Ehlert benutzt den Fachbegriff „Blattrandnekrose“. Das Blatt trocknet von außen nach innen aus. Der von den Motten befallene Baum leidet unter großem Durst.
Der Rasen des Humboldthains breitet sich jenseits der Gehwege gelb und struppig aus wie ein Stück Steppe, das sich aus Asien nach Europa verirrt hat. Ehlert, 55, ist bei der Hitze leger unterwegs. Er trägt einen schwarzen Rucksack über einem blauen Polohemd. Der Experte hat für einen Rundgang durch den darbenden Grünbestand Berlins den Humboldthain gewählt, weil er in seinen täglichen Weg passt. Ehlert lacht viel und gerne. Dabei hat er wenig Erbauliches zu berichten. „Wir hätten in jeden anderen Park in Berlin gehen können. Es ist überall das Gleiche“, meint der Baumschützer.
Besucher liegen auf dem verdorrten Rasen im Humboldthain
Familien und Paare machen es sich auf dem verdorrten Rasen auf Picknickdecken bequem. Musik quakt aus Bluetoothboxen. Die Besucher des Volksparks machen es sich im Schatten der Bäume gemütlich. „Für sie ist das sicher schön hier. Ich sehe immer die Schäden an den Bäumen, und das ist schrecklich“, meint Ehlert.
Der Baumexperte stellt eine Regel auf für alle Schäden an Bäumen, Sträuchern oder Rasenflächen: Grün sei nachtragend, sagt er. „Alles, was wir jetzt an Spuren der Dürre sehen, ist in der Vergangenheit entstanden“, sagt Ehlert. Die Folgen der Trockenheit in diesem Jahr würden sich frühestens im Herbst zeigen. Dann könnte es gefährlich werden auf Berlins Straßen.
Wie die Blätter vertrockneten auch die Bäume von außen nach innen. erklärt der Experte. Sie kappen die Versorgung mit Nährstoffen bei einem Mangel zuerst in den Ästen. Sie sterben ab und brechen als totes Holz leicht ab. „Wenn es im Herbst die ersten Stürme gibt, dann fallen tote Äste herunter“, sagt Ehlert.
Doch was macht die Situation in diesem Jahr so gefährlich? 2021 sei ein Jahr mit ausreichend Niederschlägen gewesen, erklärt Ehlert. Leider habe ein gutes Jahr nicht ausgereicht, den Verlust an Feuchtigkeit im Boden in vielen zu warmen und trockenen Jahren wettzumachen. Ehlert erinnert an den „endlosen Sommer“ 2018 mit warmen Temperaturen von Anfang April bis Ende Oktober. 2018 reihte sich dabei nur ein in eine Kette von zu warmen Sommern.
Dem Ausrutscher in die Normalität 2021 folgen in diesem Jahr nun wieder viel Hitze und Trockenheit. Besonders der üblicherweise nasse April habe kaum Regen gebracht, meint Ehlert.

Die Folgen der Dürre ließen sich gut an den Baumkronen erkennen, erklärt der Experte. Er zeigt auf Birken, deren rares Blattwerk einen freien Blick auf jeden Ast gewährt. Lichte Baumkronen zeigten die Blattrandnekrosen und das Absterben der Äste, dass die Bäume im Notfallmodus seien. Sie sparten Nährstoffe und Feuchtigkeit für überlebenswichtige Funktionen auf, erklärt der Experte.
Es gibt 430.000 Straßenbäume in Berlin
Die genaue Zahl an Bäumen in Berlin ließe sich schwer beziffern, sagt Ehlert. „Es gibt 430.000 Straßenbäume. Hinzu kommen die Bäume in Parks und im Stadtwald und in privaten Gärten. Wir sind im Vergleich eine der grünsten Großstädte“, sagt Ehlert.
Doch den Berliner Bäumen setzen nicht nur die zunehmend ausgetrockneten Böden zu. Die intensivere Sonneneinstrahlung verbrenne sie förmlich. „Selbst Bäume, die ausreichend mit Wasser versorgt sind, zeigen lichte Stellen an den Baumkronen. Die Schäden kommen von der hohen Strahlung“, sagt Ehlert.
Von Vorschlägen, Bäume mit Sonnenschutz zu versehen, hält Ehlert nichts. Er ist auch äußert skeptisch bei manchen Ideen, Straßenbäume in Berlin besser mit Feuchtigkeit zu versorgen. Sogenannte Wassersäcke sind in Berlin bereits im Einsatz. Dabei tröpfelt das in den Sack gegossene Wasser in das Erdreich. „Das hilft jungen Bäumen sehr gut, weil ihre Wurzeln noch nicht so tief sind“, sagt Ehlert.
Ältere Bäume brauchen mehr Wasser
Ältere Bäume benötigten dagegen viel mehr Wasser. Ein ausgewachsener Baum verdunste täglich 300 bis 600 Liter, das er aus tieferen Bodenschichten zieht, erklärt Ehlert. Das für Grünanlagen zuständige Personal der Verwaltung hätte wohl keine Zeit mehr für andere Arbeiten, wenn es alle Bäume in der warmen Jahreszeit mit einer entsprechenden Menge an Wasser versorgen wollte.
Was also tun, wenn die heimischen Baumarten dem Klima immer weniger gewachsen sind? Berlin experimentiert wie andere Städte mit Neupflanzungen von hitzeresistenteren Baumarten aus mediterranen Regionen. Doch die heimischen Baumarten ließen sich nicht ohne Auswirkungen auf das Umfeld im großen Stil ersetzen, erklärt Ehlert. Bäume bildeten mit Pilzen und Flechten eine Symbiose. Die Experten bezeichnen das Miteinander als Mykorrhiza. Verschwänden die Bäume, endete auch diese Symbiose. Das hätte Folgen für Pflanzen und Tiere.
Das Baumsterben hat Folgen für das Leben in der Stadt
Neue Bäume müssten auch erst einmal wachsen. Ein Baumsterben könnte das Leben in der Großstadt in Zeiten des Klimawandels deutlich ungemütlicher machen, erklärt Ehlert. Vom Erhalt des jetzigen Baumbestands hänge vieles ab, was gerade in Hitzeperioden wichtig ist: Schatten, frischer Sauerstoff und eine Abkühlung der Temperaturen zwischen Asphalt und Beton. Ehlert beschreibt Bäume als Hüter der Stadt in der Heißzeit.
Er plädiert deshalb für Entsiegelung von Flächen. So könnte Feuchtigkeit auch wieder besser an die Wurzeln der Bäume gelangen. Neue und hitzeresistentere Bäume könnten außerdem Platz zum Aufwachsen finden.







