Sie ist weg. Seit drei Jahren gibt es keine Spur von Rebecca Reusch. Am 18. Februar 2019 verschwand die damals 15-Jährige. Sie wollte zur Schule, kam dort nie an. Die Ermittler gehen davon aus, dass das Mädchen tot ist. Die kriminalistische Erfahrung spreche dafür, dass die Schülerin nicht mehr lebe, sagt Martin Glage, der ermittelnde Staatsanwalt, der Berliner Zeitung.
Was an jenem Februarmorgen geschah, ist noch immer völlig unklar. Einziger Beschuldigter für die Ermittler ist der Schwager der Jugendlichen. Gegen den Mann, der bereits zweimal festgenommen und wieder freigelassen wurde, liege noch immer ein Anfangsverdacht vor, sagt der Staatsanwalt. „Wir gehen davon aus, dass er verantwortlich ist für Rebeccas Verschwinden, sehr wahrscheinlich auch für ihren Tod“, erklärt Glage.
Die Schülerin hatte vor ihrem Verschwinden bei ihrer Schwester im Haus im Neuköllner Stadtteil Britz übernachtet. Der 27-jährige Mann ihrer Schwester soll in jener Nacht bei einer Feier gewesen und erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen sein. Zu dieser Zeit war Rebeccas Schwester offenbar schon auf dem Weg zur Arbeit. Der Mann soll später ausgesagt haben, er habe sich zu Hause sofort schlafen gelegt. Doch die Ermittler bekamen heraus, dass der junge Mann offenbar noch Pornos geschaut hatte.
Und sein Auto wurde zu relevanten Zeiten auf der Autobahn 12 vom automatischen Kennzeichen-Erfassungssystem (KESY) erfasst – am Tag von Rebeccas Verschwinden und am Tag darauf. „Er hat gelogen, als er sagte, er sei zu Hause gewesen, habe geschlafen. Tatsächlich war er auf der Autobahn unterwegs“, sagt Glage. Es sei das Auto des Schwagers gewesen, kein anderer habe darauf Zugriff gehabt.
Im vergangenen Herbst haben die Eltern der vermissten Schülerin in einer RTL-Fernsehdokumentation vom Verschwinden ihrer Tochter berichtet. Die Mutter gab dabei an, morgens versucht zu haben, Rebecca telefonisch zu wecken. Doch die Schülerin sei nicht an ihr Handy gegangen. Der Schwiegersohn, danach angerufen, soll der Mutter gesagt haben, Rebecca sei schon weg. Sie habe das Haus verlassen, um zur Schule zu gehen. Staatsanwalt Martin Glage hat einen anderen Verdacht: „Nach unserer Einschätzung hat Rebecca das Haus nicht lebend verlassen.“
Noch am Tag ihres Verschwindens gab Rebeccas Familie bei der Polizei eine Vermisstenanzeige auf. Doch erst einmal geschah nichts. „Hätten wir das Haus sofort durchsucht, hätte man uns vorgeworfen, nicht mit Augenmaß gehandelt zu haben“, sagt Glage heute. Denn in Berlin werden häufig Jugendliche als vermisst gemeldet. Im vorigen Jahr wurden bei der Polizei insgesamt 10.236 Vermisstenanzeigen aufgegeben. Der größte Teil davon, nämlich 4634 Anzeigen, betraf Jugendliche bis 18 Jahren. Die meisten Verschwundenen tauchten wieder auf.
In Neukölln verschwunden
Nicht so Rebecca. Sie ist nicht die einzige Jugendliche, die in Berlin vor Jahren schwurlos verschwand:
Seit nunmehr fast 29 Jahren fehlt zum Beispiel von Manuel Schadwald jede Spur. Der damals Zwölfjährige wurde letztmalig am 24. Juni 1993 gesehen. Er hatte sich aus der elterlichen Wohnung in Tempelhof auf den Weg zum Freizeitzentrum FEZ in der Wuhlheide begeben. Dort kam er nicht an.
Die Polizei suchte mit Spürhunden unter anderem den Wald in der Wuhlheide ab. Weil der Junge gern in Kaufhäusern und im FEZ an Computern gespielt hatte, befragten Ermittler zahlreiche Verkäufer und Betreuer – ohne Ergebnis.
Nach Recherchen der niederländischen Tageszeitung Algemeen Dagblad soll er Mitte der 1990er-Jahre von mehreren Zeugen im Rotterdamer und Amsterdamer Kinderporno-Milieu gesehen worden sein. Die Polizei folgte auch Gerüchten, wonach das Kind umgebracht worden sein soll. Eine Spur zu ihm hat die Polizei gleichwohl bis heute nicht. Im nächsten Jahr dürfte der Fall Manuel Schadwald zu den Akten gelegt werden. Jede Vermisstenmeldung wird 30 Jahre lang im Informationssystem der Polizei gespeichert.
Im Polizeicomputer als „vermisst“ eingetragen ist auch Sandra Wißmann aus Kreuzberg. Sie war ebenfalls zwölf Jahre alt, als sie am Nachmittag des 28. November 2000 verschwand. Sie war zusammen mit ihrer Mutter auf dem Kottbusser Damm in Kreuzberg unterwegs gewesen. An der Ecke Böckhstraße, in der sie wohnten, trennten sich ihre Wege. Das Mädchen wollte seiner Mutter, die zwei Tage später Geburtstag hatte, bei Karstadt am Hermannplatz ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Um 16.40 Uhr wurde das Kind von Schulfreunden noch einmal am Kottbusser Damm gesehen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.
Weil das Mädchen als zuverlässig galt und es ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter hatte, ging die Polizei schnell davon aus, dass es einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein musste. Eine Mordkommission des Landeskriminalamtes übernahm die Ermittlungen. Ein Großaufbot an Polizisten suchte die Gegend ab – Keller, Dachböden, Hausflure. Polizisten klebten Fahndungsplakate. Sie befragten mehrere verurteilte Sexualstraftäter. Doch das führte sie nicht weiter.
Im November 2001 war der Fall Thema der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“. Zahlreiche Hinweise gingen bei der Polizei ein. Doch sie erbrachten nichts.
Noch immer ist ein Bild von Sandra Wißmann auf der Internetseite der Polizei zu sehen, das die Zwölfjährige in einer blauen Wintersteppjacke zeigt. „Die Ermittlungen des Landeskriminalamtes führten zu keinen konkreten Anhaltspunkten auf das Schicksal des Mädchens“, heißt es dort. „Es wird davon ausgegangen, dass Sandra Wißmann Opfer eines Kapitalverbrechens wurde.“
Mord ohne Leiche
Traurige Gewissheit gab es hingegen bereits im Vermisstenfall von Georgine Krüger, der inzwischen aufgeklärt ist. Die 13-Jährige aus Moabit verschwand am 25. September 2006. Sie war aus der Schule unterwegs nach Hause. Zeugen sahen sie in Moabit noch aus dem Bus steigen. Dann verlor sich ihre Spur. Ihr Handy war ausgeschaltet. Anhand der retrograden Verbindungsdaten wussten die Ermittler, dass es zuletzt in der Nähe der Wohnung war. Auch Georgine galt als zuverlässig. Schnell übernahm deshalb eine Mordkommission den Fall.
Zehn Jahre lang verliefen die Ermittlungen ergebnislos. Erst 2016 bekam die Mordkommission die Information, dass Ali K., ein Mann aus der Nachbarschaft, wegen sexueller Nötigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Er hatte sich im Keller an einer 17-Jährigen vergangen. Ende 2018 erklärte das Opfer in der Zeitung B.Z., sie habe Kripobeamten gegenüber den Verdacht geäußert, dass Ali K. etwas mit Georgines Verschwinden zu tun haben könne. Diese hätten desinteressiert reagiert.
Schon 2009 soll K. in der Nachbarschaft zwei elf und 13-jährige Mädchen belästigt haben, was zu einer Strafanzeige führte. 2014 soll er versucht haben, ein weiteres Mädchen, das damals 14 Jahre alt war, in seinen Keller zu ziehen. Auch diese Jugendliche ging zur Polizei. Doch die Beamten schrieben damals nur einen Tätigkeitsbericht, in dem es hieß: „Keine strafbare Handlung erkennbar.“ Außerdem sei der Beschuldigte nicht vorbestraft.
Staatsanwaltschaft und Polizei wiesen die Vorwürfe, nicht oder zu spät gehandelt zu haben, zurück. Nach dem damaligen Sexualstrafrecht habe keine Straftat vorgelegen.
Im Frühjahr 2016 überprüfte ein Mitarbeiter der Mordkommission die Akten und stieß auf die 2011 begangene Sexualstraftat an der 17-Jährigen. Wegen der Nähe des Kellers zu dem Ort, an dem Georgine verschwand, beschäftigten sich die Ermittler erneut mit Ali K. Sie vernahmen Opfer und Zeugen von 2009 und 2011 abermals. Dann setzten sie einen verdeckten Ermittler auf den Mann an, der auf richterlichen Beschluss hin „verkabelt“ war und mitschnitt, wie Ali K. ihm den Mord an Georgine gestand. Eine Funkzellenauswertung ergab, dass sich sein Handy zur Tatzeit am selben Ort wie Georgines Telefon befunden hatte.
Ali K. wurde im März 2020 vom Berliner Landgericht wegen Vergewaltigung und Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof erklärte im Dezember desselben Jahres das Urteil für rechtskräftig. Georgines Leiche wurde nie gefunden.
Auch im Fall Rebecca hoffen die Ermittler auf Aufklärung. Mehrere Varianten prüfte die Polizei: Doch es hat laut Glage weder Hinweise darauf gegeben, dass das Mädchen von zu Hause weggelaufen, noch dass es auf dem Weg zur Schule von einem Fremden ins Auto gezerrt worden sei. „Ausgeschlossen ist das nicht, aber unwahrscheinlich“, sagt Staatsanwalt Glage.
Etlichen Hinweisen gingen die Ermittler nach: Sie suchten die Wälder und Seen unweit der A 12 nach dem Mädchen ab, Taucher und Mantrailer unterstützten sie dabei. Mit einem Foto wandten sich die Fahnder schließlich an die Öffentlichkeit. Das hatte zur Folge, dass sich Menschen bei der Polizei meldeten, die Rebecca an verschiedenen Orten gesehen haben wollen – mal in Magdeburg, mal in Köln. Bei Öffentlichkeitsfahndungen sei das normal, sagen Ermittler.
