Die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, erleben in anderen europäischen Ländern wie Polen, Ungarn oder Deutschland viel Solidarität und Hilfsbereitschaft. Plötzlich ist möglich, was gegenüber Kriegs- oder Elendsflüchtlingen aus Syrien, dem Jemen, Afghanistan oder verschiedenen afrikanischen Ländern vor kurzem noch undenkbar schien. Ist das Ausdruck von Rassismus? Oder ist es komplizierter?
In Hamburg und an anderen Orten fahren Busse der Verkehrsbetriebe mit „Stoppt den Krieg“ in ihren Anzeigetafeln. Damit sind nicht die Kriege in Äthiopien, im Jemen, im Irak, in Syrien oder Afghanistan gemeint. Es geht um ein europäisches Land, dessen Bevölkerung erbitterten Widerstand gegen den kriegerischen Angriff eines viel größeren Nachbarlandes leistet.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer gelten in diesen Tagen vielen als tapfere Opfer einer grausamen Invasion, denen man möglichst effizient helfen will. Das spiegelt sich auf lokaler Ebene wider: Für Ukrainer mit gültigem Pass sind die öffentlichen Verkehrsmittel in vielen Städten kostenlos. Aber auch auf nationaler und europaweiter Ebene: Bundesinnenministerin Nancy Faeser unterstützt den Vorschlag der EU-Kommission, Millionen von ukrainischen Flüchtlingen ohne Asylverfahren bis zu drei Jahre ganz unbürokratisch Schutz zu bieten. Dazu soll erst mal eine temporäre Richtlinie (2001/55/EG) aktiviert werden, die 2001 als Reaktion auf die Jugoslawienkriege geschaffen wurde und die das Dublin-Verfahren aussetzt.
Die Rechtmäßigkeit der Flucht der Ukrainer werde kaum angezweifelt
Diese klare politische Haltung und das solidarische Engagement der EU-Bevölkerung erscheinen angesichts der Lage in der Ukraine völlig folgerichtig, als Humanismus, der nicht hinterfragt werden muss. Eine andere Frage aber stellt sich dafür umso drängender: Misst die EU nicht mit zweierlei Maß, wenn die einen Flüchtlinge von Frontex zurück nach Libyen gedrängt werden, am Grenzzaun zu Polen im Winter ausharren müssen oder zusammengepfercht in Moria ihrem Schicksal überlassen werden, während für die anderen plötzlich eine Richtlinie aktiviert wird, von der 2015 offenbar niemand mehr etwas wusste?
Die Osnabrücker Migrationsforscherin Helen Schwenk führt einen pragmatischen Grund für die veränderte Haltung an: Deutschland habe aus den Erfahrungen von 2015 gelernt. „Diesmal waren Unterkünfte und Hilfsgüter vorbereitet, noch bevor überhaupt ein Ukrainer hier war.“ Angesichts teils sehr langer Schlangen vor den Behörden und der im Vergleich zu 2015 deutlich verstärkten Bereitschaft, Flüchtlinge privat aufzunehmen, überzeugt diese Erklärung kaum. Kommunikationswissenschaftlerin Carola Richter erklärt die besonders ausgeprägte Hilfsbereitschaft damit, dass in Hinblick auf die Menschen aus der Ukraine die Rechtmäßigkeit der Flucht kaum angezweifelt werde, während man 2015 Unterschiede gemacht habe zwischen tatsächlich Asylberechtigten und Wirtschaftsflüchtlingen.
Es lohnt sich, genauer hinzuschauen
Auch gehe man jetzt wahrscheinlich davon aus, dass die akute Nothilfe kein Dauerzustand wird und die Frauen, Kinder und Alten bald wieder in ihre Heimat zurückkehren. Dazu passt, dass Marco Felix Serrao, Chefredakteur der konservativen NZZ Deutschland, in einem Kommentar schreibt: „Diesmal sind es echte Flüchtlinge“. Er ruft damit eine neue Willkommenskultur aus. Auch die Migrationsforscherin Petra Bendel sieht eine erhöhte Aufnahmebereitschaft, lehnt aber das Schlagwort vom „Fluchtrassismus“ als unterkomplex ab. Aber wie erklärt sie dann, dass schwarze Geflüchtete aus der Ukraine an der polnischen oder der deutschen Grenze nachweislich anders behandelt werden?
In einem Artikel für die taz wirft der Journalist und Buchautor Mohamed Amjahid der EU vor, in gute und böse Flüchtlinge zu unterteilen. Er schreibt: „Die ‚europäische Wertegemeinschaft‘ muss ihren Rassismus und ihre vermeintliche Überlegenheit überwinden – jetzt.“
Der Begriff „Rassismus“ ist angesichts der europäischen Flüchtlingspolitik sicher nicht falsch gewählt. Aber ohne weitere Differenzierung könnte er den Blick auf wichtige Zusammenhänge verdecken. Es lohnt sich, etwas genauer hinzusehen.
Rassismus und Klassismus müssen zusammengedacht werden
Bereits 2020 leitete Andreas Zick vom Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld eine Studie über die Haltung der Deutschen zu Zugewanderten. Dabei zeigten sich vor allem hohe und im Laufe der Jahre gewachsene Anforderungen an die Zugewanderten: „Wer zur Gesellschaft dazugehören möchte, soll unter anderem die deutsche Sprache beherrschen, Werte und Traditionen achten, eine Arbeit haben sowie nicht von Sozialhilfe abhängig sein.“ In dieses Bild passen Äußerungen wie die eines Gastes bei „Stern TV“, der die Ukraine als ein Land lobt, „was fleißig ist, was wissbegierig ist, was neugierig ist, was unsere Werte teilt. Deswegen verstehe ich, dass die Willkommenskultur […] eine ganz andere ist als bei früheren Flüchtlingskrisen.“
Mohamed Amjahid zieht aus solchen Kommentaren einen harschen, aber nicht unplausiblen Schluss. Die Asylpolitik in Europa funktioniert wie ein Mülltrennungssystem: „Es wird so getan, als würden die einen eine wertvolle Ressource darstellen, während die anderen angeblich nicht zu verwerten seien.“
Dieser Punkt scheint mir deshalb so wichtig, weil wir Rassismus und Klassismus wieder verstärkt zusammendenken und als Problem identifizieren sollten. Es ist nicht primär die Hautfarbe, anhand der Menschen mehr oder weniger Rechte zugesprochen werden, es ist auch nicht allein der angeblich oder tatsächlich vertrautere oder fremdere Kulturkreis, dem sie entstammen. Es sind die vermutete oder wirklich existierende Armut und Unbildung, die aus Menschen Menschen zweiter Klasse machen. Tatsächlich ist der Rassismus in der Haltung zu Flüchtlingen vor allem Ausdruck einer unhinterfragten sozialdarwinistischen Haltung, die sich auch gegen Ostdeutsche, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen oder schlecht Ausgebildete richten kann.
Dass sich dabei die unteren Klassen gegeneinander ausspielen lassen, haben die besitzende Klasse und ihre mittelständische Gefolgschaft längst verstanden. Und inszenieren sich dabei gerne noch als antirassistisch. Diese destruktive und menschenfeindliche Mythologie lässt sich viel besser entlarven, wenn man vom „Rassismus“ redet, ohne von „Klassismus“ und „Sozialdarwinismus“ zu schweigen.
