Odessa Calling

Wie die Löwin aus Kleinmachnow im Zug nach Odessa zum Thema wurde

Pass auf dich auf, sagen sie alle zu mir. Doch das hilft mir nicht weiter, wenn die Stadt um mich herum angegriffen wird. Besuch im Kriegsgebiet.

Paul Gäbler am Strand von Odessa
Paul Gäbler am Strand von OdessaPaul Gäbler

Keine Ahnung, wie häufig ich den Satz in den letzten Tagen schon gehört habe. Pass auf dich auf! Jedes Mal frage ich mich: Was genau soll ich denn machen, wenn die Rakete heranfliegt? Mich verstecken? Wegrennen? Wenn Millionen von Ukrainern den russischen Terror aus der Luft tagtäglich ertragen müssen – dann muss ich das jetzt auch für einige Tage.

Es hätte vermutlich bessere Zeitpunkte geben können für eine Recherchereise nach Odessa. Einen Vorgeschmack darauf, was mich erwartet, liefert Air Alarm, die App, die Ukrainer seit fast eineinhalb Jahren vor den russischen Luftangriffen warnt. Schon die dritte Nacht in Folge leuchtet sie mahnend auf und rät, sich in Sicherheit zu begeben. Noch bin ich das, zumindest relativ.

Ich liege in einem Schlafwagenabteil und versuche, die Augen zu schließen. Erst kürzlich beschwerte sich Daniel Hinz bei Zeit Online über die romantische Verklärung des Nachtzuges – im Schnitt deutlich teurer als Fliegen, überfrequentiert und ohne Steckdosen. Nun, die ersten beiden Punkte fallen in diesem Fall weg. Das Ticket in der Luxusklasse von Lwiw nach Odessa kostet nicht mal fünfzig Euro, was für die allermeisten Ukrainer allerdings unerschwinglich ist.

Ich teile mir das Abteil mit Lydia, die vermutlich lieber ihre Ruhe gehabt hätte. Nun muss sie sich die Geschichte vom Kleinmachnower Löwen anhören, der sich erfolgreich als Wildschwein ausgab – oder war es andersrum? Egal. Mit diesen bewegten Bildern im Kopf fallen wir beide in wohligen Schlaf.

Oder auch nicht. Der Zug schwankt immer wieder bedenklich hin und her, gemeinsam mit mir und meinem Koffer, wobei es unter uns bedrohlich quietscht und zischt. Eine dieser Nächte, denke ich, als der Zug sein grobmotorisches Wiegenlied fortsetzt, wo man am nächsten Morgen nicht wirklich weiß, ob man überhaupt geschlafen hat. Als ich, eine Viertelstunde früher als veranschlagt, in Odessa ankomme, ist die Luft dünn. Die Straßen sind menschenleer. Es ist die Nacht, in der ein russischer Marschflugkörper in der Unesco-prämierten Altstadt einschlug und die Verklärungskathedrale teilweise zerstörte. Zwei Menschen starben, Dutzende wurden verletzt.

Es ist das zweite Mal, dass die Kirche einem russischen Diktator zum Opfer fällt. Im Jahr 1936 ordnete Stalin die Schleifung des Gotteshauses an, in den 2000ern wurde die russisch-orthodoxe Kathedrale nach historischem Vorbild nachgebaut. Nun ist der Altar zerstört, die Außenfassade stark beschädigt und die Odessiten sind wütend. Odessa, eine Stadt, in der früher fast ausschließlich Russisch gesprochen wurde, steht seit der Beendigung des Getreideabkommens wieder unter russischem Dauerfeuer. Die vierte Nacht in Folge haben hier nachts die Sirenen geläutet, und selten habe ich in müdere Augen geblickt als hier.

Um ein bisschen aufzuwachen, gehe ich zum nahen Strand, wo ein paar Ukrainer im Sand liegen. Ins Wasser sollte man aus verschiedenen Gründen nicht: Erstens schwimmen Seeminen im Schwarzen Meer, die immer wieder an den Strand gespült werden, und außerdem litt die Wasserqualität stark unter der Sprengung des Kachowka-Staudamms. Ein paar Schritte wage ich trotzdem und bekomme bei der Vorstellung Gänsehaut, dass vermutlich nur wenige hundert Kilometer südlich russische Fregatten im Wasser liegen und bereits das nächste Bombardement planen. Aber keine Sorge: Ich pass schon auf mich auf.