Prozess wegen versuchten Mordes

79-Jährige vor Gericht: Sie wollte ihren kranken, schlafenden Ehemann töten

Inge T. aus Luckenwalde dachte, sie schafft es, ihren Mann zu pflegen. Hilfe nahm sie nicht an. Nun steht die Rentnerin in Potsdam vor Gericht.

Für ältere Paare kann sich die Lebenssituation durch Krankheit und Isolation dramatisch zuspitzen. Wenn die Belastung groß wird, gibt es durchaus Hilfe.
Für ältere Paare kann sich die Lebenssituation durch Krankheit und Isolation dramatisch zuspitzen. Wenn die Belastung groß wird, gibt es durchaus Hilfe.Sabine Gudath

Der Abschiedsbrief von Inge T.* war an den Sohn gerichtet: Bitte verzeih mir, stand darin. Sie habe viele Fehler gemacht. Dann schrieb sie, dass ihr Ehemann die Liebe ihres Lebens gewesen sei. Was nun aber komme, sei nur noch Schmerz und Horror. Das Schreiben entstand einige Wochen, bevor Inge T. den Entschluss in die Tat umsetzen wollte, ihrem und dem Leben ihres Mannes ein Ende zu setzen.

Betretene Stille herrscht im größten Saal des Landgerichts Potsdam, als der Brief verlesen wird. Es sind kaum Besucher gekommen zu dem Prozess vor der 1. Großen Strafkammer gegen Inge T. Die Frau auf der Anklagebank, die den Abschiedsbrief geschrieben hat, schaut mit ernstem Gesicht reglos vor sich auf den Tisch.

Inge T. ist 79 Jahre alt. Die einstige Industriekauffrau trägt die Haare schulterlang, der Blick hinter den Brillengläsern ist wach. Die zierliche Frau hat ihre orangefarbene Steppjacke fein säuberlich an einen Garderobenhaken hinter ihrem Stuhl gehängt und neben ihrem Anwalt Platz genommen. Hinter ihr sitzen zwei Pflegekräfte, die sie in den Saal geführt haben. Inge T. ist nicht aus der Untersuchungshaft, sondern aus einem psychiatrischen Krankenhaus vorgeführt worden.

Seit Ende März steht die Seniorin vor einer Schwurgerichtskammer, die bei versuchten und vollendeten Tötungsdelikten zuständig ist. Inge T. muss sich wegen versuchten Mordes verantworten. Sie soll am 19. Oktober des vorigen Jahres im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit durch eine schwere depressive Episode mit einem 40 Zentimeter langen Knüppel und einem ebenso großen Küchenmesser bewaffnet auf ihren vier Jahre älteren Ehemann losgegangen sein, um ihn zu töten.

Heinz T. konnte sich zu den Nachbarn retten

Da Heinz T.* schlief, geht Staatsanwalt Jörg Möbius von einer heimtückischen Tat aus. Der Ehemann sei wach geworden, als das Licht im Schlafzimmer angegangen sei und Inge T. unvermittelt auf ihn eingeschlagen habe, sagt Möbius. Der am Kopf getroffene Mann konnte weitere Schläge abwehren. Er wurde bei dem folgenden Kampf mit seiner Frau durch Schnitte am Hals, an der Schulter und den Händen verletzt, konnte aber stark blutend aus dem Haus fliehen und bei den Nachbarn klingeln. Rettungskräfte brachten ihn und auch seine Ehefrau ins Krankenhaus. Inge T. hatte versucht, sich nach der Tat die Pulsadern aufzuschneiden und sich zudem einen Schnitt am Hals versetzt.

Inge T. spricht vor Gericht von einer harmonischen Ehe, die sie mit ihrem Heinz geführt habe. 59 Jahre lang. „Mit Höhen und Tiefen wie in jeder Beziehung“, wie sie sagt. Es klingt nicht weinerlich, sie spricht mit fester Stimme.

Warum genoss sie nicht zusammen mit ihrem Ehemann den Ruhestand in ihrem Häuschen im brandenburgischen Luckenwalde? Warum saßen Inge und Heinz T. nicht gemeinsam im Garten, tranken Kaffee oder ein Gläschen Wein und erfreuten sich an den letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres? Warum griff sie stattdessen zu Knüppel und Messer?

Vor Gericht gibt Inge T. zu, dass sie ihren Mann umbringen wollte. Doch nicht, weil sie ihn hasste. Das Leben hatte der Seniorin ihre Grenzen aufgezeigt und sie offenbar zum Äußersten getrieben. „Es ist ein ganz trauriger Fall“, sagt der Potsdamer Rechtsanwalt Steffen Sauer, der Inge T. in diesem Prozess verteidigt.

Heinz T. ist ein fröhlicher Mensch gewesen. Sie hätten viel gelacht in ihrem Leben, sagt seine Frau. Inge T. lernte ihn auf einer Silvesterfeier kennen. „In einem Tanzlokal“, erzählt die Angeklagte. Im Februar 1963 heiratete das Paar, sieben Monate später kam ihr Sohn zur Welt. Die kleine Familie zog in eine Neubauwohnung in Luckenwalde. Heinz T. arbeitete als Metallfacharbeiter in drei Schichten, seine Frau in einer Stanzerei, die bis zur Enteignung ihrem Vater gehört hatte. Damals soll Inge T. erstmals depressiv geworden sein. Auch ihr Großvater war in der DDR bereits enteignet worden.

Erst erkrankte Heinz T. an Krebs, dann wurde er dement

Anfang der 1980er-Jahre übernahm das Ehepaar von einer älteren Dame in Luckenwalde das Möbelgeschäft, so berichtet es die Angeklagte. Den Laden mussten sie nach der Wende aufgeben. Die fixen Kosten seien erdrückend gewesen, sagt sie. Die Eheleute wurden arbeitslos, versuchten sich dann in der Herstellung und dem Vertrieb von Hautcreme. 15 Jahre lief das Unternehmen, zunächst auch erfolgreich. 1996 kauften sie sich ihr Einfamilienhaus.

Mit 60 Jahren ging Inge T. in den Ruhestand, auch ihr Mann wurde zu dieser Zeit Rentner. Die Rente war klein, doch sie hatten ihr Auskommen: das Haus, den Garten, einen Bungalow an der Ostsee. Zu Hause machten sie Radtouren. Jeder hatte seine Aufgaben. Heinz T. etwa war für das Einkaufen zuständig. Mit dem Auto und der Liste, die seine Frau geschrieben hatte, fuhr er los. Immer habe er eine kleine Überraschung für sie mitgebracht, erzählt Inge T. Der Sohn war erwachsen, hatte längst eine eigene Familie gegründet.

Das klingt nach einem schönen Leben.

2017 wurde bei Heinz T. Krebs diagnostiziert. Die Therapie war erfolgreich. Doch der einst so lebenshungrige Mann erholte sich nicht mehr von der Krankheit. Lustlos, kränklich und ohne Appetit sei er geworden, sagt seine Frau. Im Jahr 2019 verkaufte das Ehepaar das Häuschen an der Ostsee, weil die Fahrten mit dem Auto ans Meer zu anstrengend wurden. Es war ein Abschied auf Raten von einem unbeschwerten Leben. Sie habe sich um ihren Heinz gekümmert und dabei selbst an Gewicht verloren, sagt Inge T. Dann fügt sie leise hinzu: „Ich dachte, ich schaffe das.“

Heinz T. bekam einen Herzschrittmacher. Dann wurde bei ihm eine beginnende Demenz festgestellt. „Meine Mutter hat vor dem Wort Demenz große Angst“, wird der Sohn von Inge T. später als Zeuge vor Gericht berichten.

„Demenz kann man nicht heilen“, sagt Inge T. So als wäre das eine Erklärung für das, was sie getan hat. Über ihre Sorgen und Ängste sprach sie mit niemanden. Auch nicht mit ihrem Sohn. Sie habe ihm nicht zur Last fallen wollen, erklärt sie ihr Schweigen. Im vorigen Jahr bekam Heinz T. den Pflegegrad 3, der Sohn kümmerte sich um einen Pflegedienst. Inge T. fand es nicht gut, dass nun fremde Menschen durch ihr Haus laufen sollten.

Staatsanwalt Möbius sagt später in seinem Plädoyer, Inge T. sei völlig überfordert gewesen, Sie habe ihr Zuhause nicht mehr als ihr Haus empfunden. Es sei fast wie eine erneute Enteignung gewesen.

Inge T. schlug ihrem Mann vor, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. „Ich wollte ihn mitnehmen, wollte ihn nicht alleinlassen. Wir hatten unsere Zeit. Fast 60 Jahre“, sagt sie. Doch ihr Heinz wollte nicht sterben. Ob sie nicht in ein Seniorenheim hätten ziehen können, fragt der Vorsitzende Richter. Gesprochen hätten sie darüber, antwortet die Angeklagte. „Aber wir wollten beide in unserem Haus alt werden und zu Hause sterben.“

Inge T. hatte keine Freude mehr am Leben. Nachts fand sie keinen Schlaf. Es waren Anzeichen einer schweren depressiven Phase, so wird es der psychiatrische Sachverständige Alexander Böhle im Prozess beurteilen. Inge T. sprach die Schwiegertochter an, ob sie ihr nicht Zyankali besorgen oder sie zum Sterben in die Schweiz fahren könne. Die Familie von Inge T. war alarmiert. Der Sohn kümmerte sich, brachte seine Mutter in eine psychiatrische Klinik, aus der sie jedoch nach sieben Tagen entlassen wurde. Es war genau eine Woche vor der Tat. „Meiner Mutter ging es nicht gut, und wenn die Ärzte in der Klinik auf mich gehört und meine Mutter noch nicht entlassen hätten, dann säßen wir nicht hier“, sagt der Sohn als Zeuge.

Heinz T. hat seiner Frau vor Gericht verziehen

Der 58-Jährige zog nach dem Klinikaufenthalt seiner Mutter vorübergehend zu seinen Eltern, brachte Bewegungsmelder für die Lampen im Haus an, bereitete Umbauarbeiten vor. Am Tattag verließ er am späten Nachmittag das Haus, um einen Arzttermin wahrzunehmen. Was genau den Ausschlag für ihr Tun an jenem Abend gab, kann Inge T. nicht mehr sagen. Sie erinnert sich nur noch an den Gedanken, dass nun die Gelegenheit wäre.

Für Reinhard Lindner ist der Fall nicht untypisch. Der Professor an der Universität Kassel leitet das Nationale Suizidpräventionsprogramm mit. Er sagt, gerade im hohen Alter gebe es Menschen, die in Partnerschaften lebten und deren Lebenssituation sich dramatisch zuspitze. Durch Krankheiten, durch den Verlust des Partners. „Viele Paare können sich gerade nach jahrzehntelanger Ehe nicht vorstellen, irgendwann allein zu leben“, sagt er.

Häufig komme noch eine Isolation dazu, in der vor allem exklusiv, also sehr ausschließend lebende Betroffene gar keine Möglichkeit sähen, Hilfe durch Dritte zu holen. Das treffe gerade auf alte Paare zu, die ihr ganzes Leben aufeinander eingestellt seien. Nicht selten sähen Betroffene einen Ausweg nur im Suizid. Nicht alle jedoch gingen diesen Schritt.

Ältere Menschen müssen lernen, sich Hilfe zu holen

„Das Leben im Alter wird schwieriger, es ist nicht immer nur Honeymoon“, sagt Lindner, der auch zu altersspezifischen Aspekten der Suizidalität forscht. Wenn die Belastung groß werde, gebe es durchaus Hilfe. Man müsse im Laufe des Lebens aber üben, sich als bedürftig zu erleben und dies nicht als etwas Schreckliches anzusehen, sondern als etwas, das man akzeptieren müsse. „Wir müssen lernen, es nicht als furchtbar anzusehen, gebrechlich zu werden“, sagt Lindner. Menschen, die gebrechlich werden, müssten auch lernen zu akzeptieren, dass sie Unterstützung benötigen.

Lindern sagt, es sei wichtig, alte Menschen anzusprechen, Hilfe anzubieten, zuzuhören. „Hausärzte, Apotheker, ja, selbst die Gemüsefrau um die Ecke ist da gefragt“, sagt der Experte. Es sei ein gesamtgesellschaftliches Thema, gerade auf ältere Menschen zu achten, zu schauen, ob sie versorgt seien. „Wir müssen mehr miteinander reden.“

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Senioren im Gefängnis
In Berliner Justizvollzugsanstalten (JVA) sitzen derzeit 2710 Strafgefangene (Stichtag 30. März 2022). Im Jahr 2021 waren 110 inhaftierte Männer älter als 60 Jahre, 29 Gefangene waren über 70 Jahre alt.
Im Jahr zuvor waren 25 Strafgefangene älter als 70 Jahre, 2019 lag die Zahl bei 23, im Jahr 2018 bei 16.
Der älteste Strafgefangene sitzt in der JVA Tegel, er ist 85 Jahre alt. Die älteste inhaftierte Frau in einem Berliner Gefängnis ist 78 Jahre alt.
In Brandenburger Justizvollzugsanstalten ist der älteste Insasse 82 Jahre alt, die älteste inhaftierte Frau ist 69 Jahre alt.

Das sieht auch Mara Rick so. Sie leitet die Beratungsstelle „Pflege in Not“ in Berlin. Das Projekt des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte ist Anlaufstelle für pflegende Angehörige, die überfordert sind oder sich vor scheinbar unlösbaren Problemen sehen. Rick beobachtet immer wieder, dass gerade ältere Menschen Hilfe bei der Pflege ablehnen. „Sie haben ihr Leben in Selbstständigkeit gelebt, sind nicht gewohnt, Unterstützung anzunehmen“, sagt sie. Oder es irritiere sie, wenn plötzlich mit Pflegekräften fremde Menschen in ihr Leben treten.

Rick erklärt, dass die Pflegebedürftigkeit oftmals ein schleichender Prozess sei. „Und wenn er erkannt wird, dann reden viele nicht darüber. So als wäre das Problem damit auch nicht real“, erklärt sie. Alter und Pflegebedürftigkeit seien in unserer Gesellschaft noch immer Tabuthemen, „die scheinbar immer nur alle anderen betreffen“.

Es sei wichtig, Angebote zur Unterstützung bei der Pflege aufzuzeigen. „Oftmals wissen ältere Menschen nicht, was es für Hilfe gibt“, sagt sie. Der erste Schritt sei, sich bewusst zu machen, dass man es nicht mehr alleine schafft. „Es ist in Ordnung, im Alter an seine Grenzen zu stoßen.“

Der Staatsanwalt hofft auf eine Versöhnung

Auch Inge T. stieß an ihre Grenzen. Und wollte sie offenbar nicht akzeptieren. Der psychiatrische Gutachter hat nicht ausgeschlossen, dass sie zur Tatzeit wegen ihrer schweren Depressionen schuldunfähig war. Er empfiehlt, die Angeklagte zunächst in einer psychiatrischen Klinik weiterzubehandeln, drängt aber im Falle einer Genesung darauf, sie bald zu entlassen und sie in einer Art betreutem Wohnen unterzubringen.

Der Staatsanwalt folgt dem, er sagt, wenn Inge T. schuldunfähig gewesen sei, könne sie nicht verurteilt werden. Er plädiert dafür, die 79-Jährige freizusprechen und zunächst weiter in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Eine räumliche Trennung von Heinz T. hält er jedoch für zwingend. Vielleicht könne es irgendwann begleitete Treffen zwischen den Eheleuten geben. Er hoffe aber auch, dass Inge und Heinz T. „noch ein paar gemeinsame Jahre haben“. Das Urteil wird in einer Woche erwartet.

Heinz T. hat als Zeuge vor Gericht ausgesagt und seiner Frau dabei verziehen. Er wolle seine Inge nicht verlassen, „auf keinen Fall“, hat er beteuert und mit brüchiger Stimme hinzugefügt: „Ich möchte meine Frau unbedingt wieder in den Arm nehmen.“

* Namen geändert