Berlin – Halbierung des Genesenenstatus über Nacht, ungerechte Behandlung von doppelt Geimpften plus Infektion, offene Fragen bei der Priorisierung von PCR-Tests, Ärger um die unveränderten 2G-Regeln im Handel. Die Corona-Politik bleibt umstritten. Daran ändern auch die Änderungen nichts, die der Berliner Senat am Dienstag beschlossen hat, und die am Sonnabend in Kraft treten.
„Die Sache mit dem Genesenenstatus ist ziemlich verworren. Sie ist eine Geschichte voller Absurditäten“, sagt der Rechtsanwalt Niko Härting, „und sie bringt die Leute auf.“ Seit die Bundesregierung Mitte Januar von einem Tag auf den anderen mitteilte, dass Menschen, die eine Corona-Infektion hatten, künftig nicht mehr sechs, sondern nur noch drei Monate als genesen gelten, komme seine Kanzlei in Mitte „mit den Anträgen von Mandaten kaum mehr hinterher“, sagt Härting im Gespräch mit der Berliner Zeitung.
Die Halbierung des Genesenenstatus ist für die Betroffenen jeden Tag spürbar
Die plötzliche Verkürzung führt zu einem Statusverlust, der jeden Tag spürbar ist, schließlich gelten die Genesenen plötzlich nicht mehr als genauso gut geschützt beziehungsweise ungefährlich wie Geimpfte. Obwohl viele Mediziner offenbar weiterhin davon ausgehen, dass Genesene eher mehr Antikörper gegen Corona haben als Geimpfte, also besser gewappnet sind. Im Alltag führt der Statusverlust dazu, dass die Genesenen nicht als geboostert gelten – und deshalb zum Beispiel nicht ohne Weiteres Eintritt zu vielen Veranstaltungen oder auch in die Gastronomie haben.
„Viele Genesene fühlen sich stiefmütterlich behandelt“, sagt Anwalt Härting, dessen Kanzlei derzeit mehrere Dutzend Mandaten mit Eilanträgen vor Verwaltungsgerichten in Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg vertritt. „Offenbar lassen sich die Genesenen nicht so gut in die sehr zahlenfixierte Corona-Verwaltung einordnen“, sagt der Jurist. „Sie werden gerne außen vor gelassen.“
Nach Härtings Worten ist es nur eine Frage von Tagen, bis auch erste Berliner mit diesem Anliegen zu ihm kommen werden. Grund ist die Entscheidung des Senats von Dienstag, die Bundesregelung auch für Berlin zu übernehmen. Zuvor hatte zum Beispiel für die hauptstädtische Gastronomie weiterhin wenigstens eine Sechs-Monate-Regel gegolten. Dies wurde auf der Senatssitzung am Dienstag mit dem Hinweis darauf gekippt, dass das Land Berlin „selbstverständlich Bundesrecht“ anwende.
Allerdings quasi unter Protest, wenn man der Argumentation von Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote folgen will. Es sei kein Geheimnis, „dass niemand mit der Umsetzung glücklich war“, sagte die Grünen-Politikerin am Dienstag im Anschluss an die Senatssitzung. Dennoch habe sie am Montag bei der Sitzung der Gesundheitsministerkonferenz gegen einen Antrag aus Bayern gestimmt, die Halbierung wieder zurückzunehmen. „Die Rolle rückwärts wäre kein guter Weg“, sagte Gote.

Damit trifft die Berliner Gesundheitssenatorin derzeit sogar auf Verständnis der Opposition im Abgeordnetenhaus. Weder Christian Zander noch Florian Kluckert, gesundheitspolitische Sprecher der CDU- beziehungsweise der FDP-Fraktion, mochten am Mittwoch im Gespräch mit der Berliner Zeitung den Berliner Senat dafür nicht kritisieren, dass er die Bunderegelung übernehme. Es bedürfe bei solchen Maßnahmen bundeseinheitliche Regelungen, sagten beide.
Zanders und Kluckerts Kritik richtet sich vielmehr Richtung Bundespolitik, explizit Richtung Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Politik müsse sich zwar auf die Expertise von Virologen verlassen, „aber das RKI darf keine Politik machen“, sagt Florian Kluckert. CDU-Mann Christian Zander sieht „demokratietheoretisch eher komplizierte Vorgänge“.
Tatsächlich entzündet sich die Hauptkritik bei der Halbierung des Genesenenstatus auf drei Monate seit Wochen an der passiven Haltung des Bundesgesundheitsministers. Er hatte vor zwei Wochen eine Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) eins zu eins in die neue Infektionsschutzverordnung der Bundesregierung einfließen lassen. Eine entsprechende Arbeitsteilung hatte zuvor Bundestag und Bundesrat passiert. Tenor: Ja, das RKI dürfe den Status festlegen.
Bundestagsjuristen kritisieren umfassende Kompetenz des RKI
Mittlerweile hat sich selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kritisch zu dem Verfahren geäußert. In einer Stellungnahme aus dem vergangenen Januar wird unter anderem analysiert, ob das Thema Genesenennachweis überhaupt auf einfachem Weg per Verordnung geregelt werden darf, weil bei solchen Corona-Maßnahmen Grundrechte berührt würden. Kritisiert wird außerdem, dass durch die Neuregelung „wesentliche Aspekte“ beim Thema Genesenennachweis dem Robert-Koch-Institut überlassen werden und dass als Informationsquelle für mögliche Änderungen des Genesenenstatus die Internetseite des RKI angegeben wird.
Eine öffentliche Bekanntgabe der Änderung gab es nicht. Transparenz und Nachvollziehbarkeit sieht sicher anders aus.
Und so stellen sich immer mehr Politiker auf Bundes-, aber auch auf Landesebene die Frage, ob das RKI überhaupt solche einschneidenden Entscheidungen treffen dürfen soll? Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Tino Sorge, hat sich schon vor Tagen positioniert: „Solche kritischen Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen unmittelbar betreffen, gehören entweder ins Parlament, oder sie müssen durch den Minister selbst getroffen und erklärt werden. Nichts davon war der Fall.“ Auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr schaltete sich ein. „Über den Genesenenstatus sollte wieder im Parlament entschieden werden. Nach zwei Jahren Pandemie dürfen wir uns keine rechtlich fragwürdigen Freiheitseingriffe mehr erlauben“, sagte er. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) sieht das ähnlich: „Die jetzige Verordnung dürfte einer gerichtlichen Überprüfung schwer standhalten.“
Wie auch immer. Offenbar bleibt die Kritik nicht völlig folgenlos. So wurde am Dienstag „aus Kreisen der Ampel-Parteien“ im Bund berichtet, dass das Gesundheitsministerium Änderungen der Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung wieder an sich ziehen wolle.
Sollen sich jetzt alle doppelt Geimpften mit Infektion impfen lassen?
Offen bleibt eine Frage, die sich mittlerweile alle Berliner stellen werden, die einmal infiziert waren: Verlangt der Senat von ihnen drei Impfungen, um die 2G-plus-Regel zu erfüllen?



