Dieser Text ist Teil der Serie „Corona-Debatte“. Alle Texte dazu finden Sie hier.
Noch nie hatten Wissenschaftler so viel Einfluss auf die Geschicke der Menschen wie in der Corona-Pandemie 2020-2022: Auf Anraten von Fachleuten aus Medizin und Nachbarbereichen schränkten die Verantwortlichen das normale Leben der Menschen in einer Weise ein wie nie zuvor.
Derart massive Schulschließungen, Reiseverbote, Veranstaltungsverbote und Impfstatus-Überwachungen hätte kaum jemand vorher für möglich gehalten, jedenfalls nicht in freiheitlich-demokratischen Staaten. Aber wie gut waren die wissenschaftlichen Begründungen für diese extreme Politik überhaupt?
Ein wichtiger Grundsatz der Wissenschaft ist unsere Skepsis angesichts von weitreichenden Schlussfolgerungen: Wenn jemand eine starke Behauptung macht, wird diese von den Kolleginnen und Kollegen oft sofort abgeklopft und kritisiert, und genau das unterscheidet Wissenschaft von Religion. Wir arbeiten gemeinsam an tiefen Fragen der Menschheit, aber wir sind zunächst einmal skeptisch gegenüber neuen Erkenntnissen – auch gegenüber unseren eigenen. Wenn unsere Aussagen angezweifelt werden, sehen wir das als willkommenen Beitrag zur Debatte. „Offene Diskurse und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden sind ein wesentliches Fundament der Wissenschaftsfreiheit“, heißt es im Memorandum zur Wissenschaftsfreiheit aus dem Jahr 2018. Der amerikanische Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton hat es so zugespitzt: „Wissenschaft ist organisierte Skepsis“.
In den öffentlichen Diskussionen während der Corona-Pandemie geriet dieser Grundsatz leider immer wieder in Vergessenheit, und viele Menschen bekamen den Eindruck, dass das Problem die Skeptiker und Zweifler sind (die in der Wissenschaft früher als „Querdenker“ willkommenen waren), und nicht unser mangelhaftes Wissen.
Fragen, die lange offen blieben
Dabei wusste die Wissenschaft in den meisten Bereichen viel weniger, als man für stark einschränkende politische Maßnahmen hätte wissen müssen: Wie ist der Übertragungsweg des Virus? Tröpfchenübertragung (so dass man Abstand halten muss) oder Aerosolübertragung (so dass man Innenräume meiden muss) oder beides? Kann die Kontaktnachverfolgung die Ausbreitung unter Kontrolle bringen? Könnte man das Virus mit Null-Covid-Maßnahmen eliminieren? Endet die Pandemie mit Herdenimmunität?Haben die zahllosen Schülertests zu besserer Gesundheit geführt? Tragen Masken (auch bei Kindern) wesentlich zur Reduktion der Krankheitslast der Bevölkerung bei? Sind FFP2-Masken für die Allgemeinbevölkerung besser als medizinische Masken? Sind geimpfte Menschen wesentlich weniger infektiös?

Auf viele dieser Fragen gab und gibt es nur sehr unbefriedigende und oft widersprüchliche Antworten. Und das liegt nicht nur am vielfach beklagten Mangel an guten Daten, sondern auch am mangelnden Verständnis der zahlreichen zusammenspielenden Faktoren: Wir können das Virus zwar genetisch sequenzieren und erstaunliche mRNA-Impfstoffe bauen, und wir können die Virus-Ausbreitung zum Teil mit mathematischen Modellen beschreiben, aber wie man diese Wellen und die Krankheitslast durch sinnvolle politische Maßnahmen (außer durch Impfungen) beeinflussen kann, weiß offenbar niemand genau. Etliche frühere Konzepte wurden ja aufgrund ihrer Erfolglosigkeit stillschweigend ad acta gelegt.
Auch geografische Zusammenhänge warfen viele Fragen auf: Warum schien das Virus vor allem die Menschen in den wohlhabenden Ländern so massiv zu treffen, während die meisten Länder Afrikas eher verschont blieben? Der Wissenschaftsautor Siddharta Mukherjee wies schon 2021 in einem Aufsatz auf diese Frage hin, Wissenschaftler befassten sich damit, aber in der öffentlichen Diskussion spielte dieser Aspekt praktisch keine Rolle. Für viele Beobachter war und ist rätselhaft, dass Schweden auch ohne größere Einschränkungen keine Covid-Katastrophe erlebt hat und nun sogar eine der geringsten Übersterblichkeiten in Europa aufzuweisen hat. Dass die Wellen auch ohne politische Eingriffe auf und ab gehen, haben wir alle spätestens in diesem Sommer gesehen, als zuerst die Juli-Welle und dann die Oktober-Welle wieder spontan zurückgingen. War vielleicht die politische Steuerung großenteils illusionär?
Menschen handeln lieber, als abzuwarten
Und immer wieder hieß es, man hätte im März 2020 natürlich etwas tun müssen, denn es wäre zu gefährlich gewesen, abzuwarten. Dass dies aber in einer Situation von großer Ungewissheit oft gerade nicht gilt, ist weitgehend untergegangen. Ärzte sind mit diesem Problem wohl noch am ehesten vertraut: Wenn sie nicht wissen, ob ein Eingriff einer Patientin hilft, halten sie sich an den alten ethischen Grundsatz: „Primum non nocere“, als erstes keinen Schaden anrichten. Die Gesellschaft wollte aber offenbar vor allem möglichst viel tun, also möglichst viel von unserem Sozialleben anhalten (vor allem Schulen und Kulturveranstaltungen), ohne dass man wusste, ob das wirklich im Ergebnis zu geringerer allgemeiner Krankheitslast führen würde.
Was hätten wir Wissenschaftler also besser machen können? Ich glaube, dass wir viel stärker auf die großen Unsicherheiten hätten hinweisen müssen, obwohl das unseren Beitrag für die Öffentlichkeit vielleicht als weniger wertvoll hätte erscheinen lassen. Sind wir also der Versuchung erlegen, mehr zu versprechen, als wir halten können? Gerade in Deutschland waren viele Wissenschaftler stolz auf „unsere Angela Merkel“, die als promovierte Physikerin offenbar besser als andere verstanden hatte, was zu tun war. Aber als Politikerin konnte man von Merkel keine echt wissenschaftliche (also skeptische) Haltung erwarten, und ebenso wenig von einzelnen Wissenschaftlern, die gerne in Radio und Fernsehen auftraten (oder zu Regierungsberatern wurden) und sich naturgemäß an der Wertschätzung freuten. Woher hätte also die skeptische, zur Vorsicht mahnende Haltung kommen können?
Man würde wohl am ehesten an die Allianz der Wissenschaftsorganisationen oder die Leopoldina (die nationale Akademie der Wissenschaften) denken, die die Prinzipien der Wissenschaft hätten hochhalten können (und müssen), und die immer wieder auf das mangelhafte Wissen und die schlechten Daten hätten hinweisen müssen. Soweit mir bekannt, ist das niemandem in den Sinn gekommen. Im Gegenteil: Die Wissenschaftsorganisationen haben im Oktober 2020 einen harten Lockdown gefordert, und sogar ein Jahr später, als bereits alle Impfwilligen gut geschützt waren, forderte die Leopoldina „klare und konsequente Maßnahmen“ und beklagte sogar die „Vielstimmigkeit der Einschätzungen“, statt sie einzufordern.
Skeptisch sein und auf gute Evidenz warten
Wie konnte es dazu kommen, dass diese prestigeträchtigen Organisationen unseres Wissenschaftssystems so eindeutige (und rechtsstaatlich fragwürdige) politische Aussagen machten, für die es so wenig Evidenz gab? Evidenz ist der wichtigste Grundpfeiler jeder wissenschaftlichen Schlussfolgerung, aber dass sehr viele politische Maßnahmen nicht durch gute wissenschaftliche Evidenz gedeckt waren, drang nicht an die Öffentlichkeit durch. Das Netzwerk für evidenzbasierte Medizin hat immer wieder darauf hingewiesen, aber in den Medien kamen vor allem meinungsstarke Persönlichkeiten zu Wort, die die Marschrichtung zu kennen schienen und denen man vertraute.
Dass es die Kernbotschaft der Wissenschaft sein soll, vorsichtig und skeptisch zu sein und auf gute Evidenz zu warten, mag manchen Lesenden erstaunlich erscheinen. Schließlich sind wir seit längerem mit dem Gedanken vertraut, dass die Probleme der Menschheit nur mit der Wissenschaft gelöst werden können. Gerade in der Klimakrise scheint es töricht, nicht „auf die Wissenschaft zu hören“. Aber man muss eben auch die Zwischentöne hören, und das ist offenbar selbst in den Wissenschaftsorganisationen sträflich vernachlässigt worden.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind oft großartig und lebensrettend, aber als Insider weiß man, dass nicht alles im Wissenschaftsbetrieb gut läuft: Gerade in den besten Zeitschriften gibt es die meisten fehlerhaften Artikel, in der Psychologie gibt es eine große Krise der Wiederholbarkeit von Experimenten, und die hierarchische Organisation der Wissenschaft erzeugt viele Abhängigkeiten, die es Einzelnen nicht leicht machen, unorthodoxe Erwägungen vorzubringen. In einem gesellschaftlichen Klima, wo die Geltung der wissenschaftliche Rationalität auch noch von offensichtlichen Lügnern wie Trump und Putin ist, haben die Selbstkorrekturkräfte der Wissenschaft offenbar nicht schnell genug gewirkt. Es gab nur wenige prominente Kollegen und Kolleginnen, die ihre Skepsis gegenüber der Lockdown-Politik öffentlich machten, darunter der Mediziner John Ioannidis und der Evolutionsphilosoph Peter Godfrey-Smith. Es gibt also nicht nur für die ganze Gesellschaft, sondern auch für die Wissenschaft viel aufzuarbeiten.






