Berlin-Eine Gruppe Spaziergänger läuft Unter den Linden in Richtung Brandenburger Tor. Die grauhaarigen Männer und Frauen mit Stadtrucksäcken und schwäbischem Dialekt sind mutmaßlich Touristen. Plötzlich schreien sie im Chor: „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“ Sie sind am vergangenen Sonntag angereist, um gegen die Corona-Maßnahmen und gegen die Regierung zu protestieren. Doch die Berliner Polizei hatte 13 Kundgebungen und Aufzüge verboten. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Verbote. Alles rechtsstaatlich korrekt also.
Und doch trieb es Tausende in die Hauptstadt. Viele waren vor allem aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen mit Bahnen und Bussen angereist und hatten sich in Hotels eingemietet. Viele kamen zum Beispiel im riesigen Hotel Estrel in Neukölln unter. „Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin und habe auch Respekt vor dem Virus“, sagt eine der grauhaarigen Frauen vom Bürgersteig. „Aber ich will meine Grundrechte zurück!“ Dann wendet sie sich ab und geht weiter.
Minuten später wird sie wieder in den Sprechchor einstimmen, und vielleicht gehört sie später zu den fast 1000 Menschen, die die Polizei allein am Sonntag vorübergehend festgenommen hat. Ihnen wird Teilnahme an verbotenen Versammlungen vorgeworfen. Oder ein Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz oder Beleidigung von Polizisten, Widerstand gegen die Staatsgewalt – und in mehreren Fällen auch tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte.
Gestorbener Demonstrant war Mitgründer der Partei „Die Basis“
Das ganze Wochenende über, bis zum späten Sonntagabend, zogen Protestierer durch die Innenstadt und hielten die Polizei auf Trab. Festnahmen gab es etwa am Großen Stern und an der Reichsstraße, wo die Polizei eine illegale Kundgebung auflöste, und abends im Lustgarten.
Ein 49-jähriger Mann, den Polizisten am Sonntag zur Identitätsfeststellung festnahmen, starb. Er hatte bei der Festnahme über Kribbeln in Arm und Brust geklagt und hatte kalten Schweiß. Ein Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus, wo er starb. Der Mann aus Nordrhein-Westfalen war Gründungsmitglied der Partei „Die Basis“, Mitgründer des Landesverbandes NRW. Die Partei bat am Montag darum, „den tragischen Tod eines Menschen auf keinen Fall politisch zu missbrauchen“. Das hielt AfD-Fraktionschef Georg Pazderski nicht davon ab, wenige Stunden, nachdem in der Nacht die Polizei den Tod des Mannes mitgeteilt hatte, den rot-rot-grünen Senat für die Eskalation, die „am Ende ein Menschenleben gekostet hat“, verantwortlich zu machen. Über die Ergebnisse einer für Montag von der Staatsanwaltschaft angesetzten Obduktion ist noch nichts bekannt.
Bei ihrem Einsatz stand die Polizei vor besonderen Herausforderungen. Sie riegelte das Regierungsviertel und die Straße des 17. Juni ab, für die die Demos ursprünglich angemeldet waren. Aber sie konnte nicht verhindern, dass Protestierer in Gruppen durch die Stadt zogen. Benedikt Lux, Innenpolitischer Sprecher der Berliner Grünen, der die Verbote in der Sache teilt, fragt sich, ob diese für noch mehr Unordnung gesorgt haben: „Kleine Gruppen konnten durch die Kieze laufen, wodurch sich viele Berliner bedroht fühlten und den Eindruck hatten, dass die Polizei nicht an ihnen dran war.“ CDU-Fraktionschef Burkard Dregger fordert von SPD-Innensenator Andreas Geisel, die Polizei so aufzustellen, dass sie „die Lage jederzeit unter Kontrolle behält und sich angesichts der Gewalt nicht zurückziehen“ müsse.
In der Tat wirkten die Polizisten mitunter überfordert. Etwa auf dem Alexanderplatz, als ein Demonstrant auf einen Beamten einprügelte. Videos im Internet zeigen aber auch, wie ruppig und hart Polizisten im Namen des durchzusetzenden Infektionsschutzes gegen Personen vorgingen, etwa am Großen Stern wegen einer mutmaßlichen Beleidigung.
Auch ein Opa mit Regenschirm kann gefährlich werden
„Bei den ‚Querdenkern‘ haben wir auch die Schwierigkeit, dass man vielen ihre Gefährlichkeit nicht ansieht“, sagt ein Bereitschaftspolizist. „Bei Hooligans und Nazis weiß man, woran man ist, auch bei Linksautonomen. Wenn dann ein älterer Herr wütend mit seinem Regenschirm auf dich losgeht, dann bist du schon etwas überrascht.“ Tatsächlich waren unter den Protestierern nur vereinzelt Hooligans, Neonazis und Reichsbürger zu sehen. Vielmehr waren es Leute aus dem „bürgerlichen Spektrum“ - mitunter auch Esoteriker, Blumenkinder und Hare-Krishna-Anhänger und Menschen, die Regenbogen-Fahnen schwenkten.
Einigen Kritikern zufolge hätte man zumindest die Großkundgebung auf dem 17. Juni erlauben sollen, um chaotische Szenen wie jetzt zu vermeiden. Der Bereitschaftspolizist erinnert daran, dass dort vor genau einem Jahr eine gleiche Kundgebung aufgelöst wurde und es chaotische Szenen gab. Und Innensenator Andreas Geisel sagt, dass im Zweifelsfall mehr als 10.000 Menschen zusammengekommen wären. „Alle entschlossen, die geltenden Regeln zu brechen. Die Polizei hätte dann die Versammlung dort beenden müssen und 10.000 Menschen dazu bewegen müssen, sich zu entfernen. Bei einer Weigerung hätte sie dann auch Gewalt anwenden müssen. Wäre das angemessen gewesen?“
Gleichwohl bezeichnete die Gewerkschaft der Polizei die Einsatztaktik der „dynamischen Einsatzlage“ entsprechend als angepasst. „Es gab viele dezentrale Aktionen und 82 Millionen Polizeiführer, die meinen, es hätte besser gemacht werden können“, sagt deren Sprecher Benjamin Jendro dieser Zeitung. „Aber Tausende waren auf der Straße und wollten irgendwohin. Das kann man vielleicht lenken, aber eben nicht komplett verhindern.“




