Berlin-Sobald er durch die Polizeikontrolle am Treptower Park durch ist, setzt der Mann seine Mütze auf. Es ist eine Schiebermütze, wie sie vor 100 Jahren viele Männer in Berlin getragen haben. Auch Ernst Thälmann ist oft mit dieser Mütze abgebildet worden. In der Mitte der Mütze ist ein Anstecker, ein kleiner roter Stern, darauf Hammer und Sichel.
Der Mann mit der Mütze nennt sich im Internet „HP Koch“, er ist rund Mitte 50 und ist schon von Weitem zu erkennen auf dem großen Platz vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Er trägt nämlich ein rote Fahne und schwenkt sie.
„Das ist die Arbeiterfahne“, sagt Koch und seine Begleiterin fügt wütend hinzu: „Dass man das überhaupt Menschen erklären muss, unglaublich!“ Koch sagt, dass er die Fahne erst nicht mit auf den Platz bringen durfte – dann aber doch, weil schließlich auf der Fahne Hammer und Sichel fehlen. Er grinst. „Die Arbeiterfahne ist ein erlaubtes Symbol!“ Ein Mann kommt auf ihn zu und sagt: „Vielen lieben Dank“, sagt der Mann mit russischen Akzent. „Wir müssen zusammenhalten, egal was die anderen sagen.“
Seit 77 Jahren gedenken die Menschen in Berlin der Befreiung von den Nationalsozialisten. Im Jahr 1945 beendeten die Alliierten in Berlin den Weltkrieg mit einer Besetzung, die den Frieden brachte, aber auch eine Teilung der Stadt in vier Sektoren. In der Stadt sind viele Denkmäler für diesen Tag verteilt, vor allem für die Sowjetunion, und an ihnen wurde am 8. Mai der Befreiung durch die sowjetische Armee gedacht.

Anders als sonst aber gab es in diesem Jahr keine Reden, keine großen Auftritte von Künstlern aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Feier zur Befreiung findet jetzt eben vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine statt. Um Konflikte zu vermeiden, hat Berlin ein ungewöhnliches Verbot erlassen: Sowohl russische als auch ukrainische Symbole sind am 8. und 9. Mai in der Nähe der Ehrenmäler nicht erlaubt. Ausgenommen von dem Verbot waren Botschaftsmitarbeiter und Veteranen des Weltkriegs.
Am Treptower Park, im Tiergarten, am Schönholzer Ehrenmal sowie an zwölf weiteren Orten in Berlin kontrollierte deshalb die Polizei an den Eingängen auf diese Symbole. Wie viel Raum das aber für Interpretation lässt, zeigte sich schon am Sonntagmorgen. Die Besucher wurden immer kreativer: ein Pullover mit der Aufschrift CCCP (nicht erlaubt), die veraltete jugoslawische Flagge (erst ja, dann nein), die Friedenstaube (klein ja, als Fahne nein) und eben die rote Arbeiterfahne (erst nein, dann ja).
8. Mai in Berlin: Im Tiergarten kommt es am Mittag zu einem Eklat
Im Tiergarten kam es gegen Mittag zu einem Eklat. Schon vor dem offiziellen Anfang der Zeremonie der Kranzniederlegung um 12 Uhr hatten sich zwei Gruppen vor dem Sowjetischen Ehrenmal versammelt. Die erste Gruppe, die größtenteils aus Ukrainerinnen in traditioneller Kleidung bestand, skandiert laut Losungen und singt die ukrainische Nationalhymne.
Als der ukrainische Botschafter Andreij Melnyk mit seiner Frau kurz vor 12 Uhr ankommt, wird plötzlich eine zweite Gruppe laut. Während er die anwesenden Besucher begrüßt, sind Buh-Rufe oder „Melnyk raus“ und „Nazis raus“ zu hören. Zwei Menschen halten eine große rote Fahne hoch, andere eine Regenbogen-Fahne mit dem Wort „Pace“ (Frieden).
Unter den Gästen, die Melnyk bei der Kranzniederlegung begleiten, sind Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke). Nach der Kranzniederlegung sagt Melnyk der Berliner Zeitung, er habe es sehr geschätzt, dass solche Vertreter der Bundes- und lokaler Politik dabei sind und ihre Unterstützung zeigen.
Er wiederholt noch einmal die Einladung an Bundeskanzler Olaf Scholz, in die Ukraine zu kommen. „Das wäre ein wichtiger Schritt, damit Deutschland seiner historischen Verantwortung der Ukraine und dem ukrainischen Volk gegenüber gerecht werden kann“, sagte der Botschafter.
Er hoffe auch, das Gedenken zum Tag der Befreiung an alle Opfer des Zweiten Weltkrieges bringe die Deutschen dazu zu erkennen, „dass das, was vor 77 Jahren geschehen ist, sich heute in der Ukraine leider wiederholen kann“. Auf die Buh- und „Nazi“-Rufe aus einem Teil der Menge vor dem Ehrenmal reagierte er entspannt: „In diesem Land herrscht Meinungsfreiheit – das ist ein hohes Gut, das wir schätzen müssen.“

Auch am Treptower Park wird dieser Konflikt ausgetragen, nur leiser. Eine ältere Berlinerin steht am Rand einer der Soldatenstatuen und erzählt unter Tränen, wie sehr sie als Kind gelitten habe unter dem Naziregime. Ihre Verwandten waren in Gefängnissen, in KZs, sie habe die Russen „mit Blumen empfangen“. Diese Dankbarkeit halte für sie ein Leben lang. „Sie haben uns Erbsensuppe geschenkt!“
Doch als die fast 90 Jahre alte Dame dann beginnt, davon zu reden, dass die Nato Schuld habe am Angriffskrieg von Russland, da widerspricht ihr jemand. Und plötzlich fallen auch hier am Ehrenmal die Worte „Asov-Regiment“, „Waffenlieferungen“, „Russen-Propaganda“. Es wird laut und hitzig und persönlich. „Putin hat sie lange genug gewarnt“, sagt die eine Seite. „Es ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg“, sagt die andere Seite. Irgendwo am Rand steht Dietmar Bartsch von der Linkspartei und sagt in eine Kamera, dass er immer gegen die Lieferung von Waffen war.

Ellen Händler wollte solche Bilder auf jeden Fall für ihre Gedenkfeier nicht haben. Die 74 Jahre alte Frau ist Vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und kümmert sich seit 1990 um das Gedenken an diesem Ort. Sie darf ihre Fahne des Vereins schwenken, die auch Rot-Weiß-Blau sind, wie die Farben Russlands und der USA. Insgesamt aber unterstützt sie das Fahnenverbot, weil es nur die andere Seite in diesem Konflikt provoziere und das passe nicht auf den Anlass und auf diesen Ort.
„Wie wollen ein stilles, ein friedliches Gedenken“, sagt Ellen Händler. „Dieser Tag soll nicht von dem Krieg überlagert werden, weil wir unseren Eltern und Großeltern gedenken wolle.“ Das Ehrenmal ist für sie ein wichtiger Ort, ein Symbol für den Frieden, in dem sie aufwachsen durfte, wie sie es sagt. „Deshalb finde ich es auch schlimm, dass es mehrfach beschmiert wurde, auch wieder mit Hakenkreuzen.“ Das sei zuletzt 1990 passiert und für sie ein schlechtes Zeichen.
Zusammen mit anderen Vereinsmitgliedern hat sie sich überlegt, an beiden Tagen trotzdem ein Zeichen zu setzen. Sie verteilen kleine Aufkleber, die Besucherinnen und Besucher an ihre Blumen heften können. „Nein zum Krieg“ steht darauf auf Russisch. Viele haben diese kleinen Aufkleber auf ihre Blumen geklebt und sie dann vor die Statuen gelegt. Außerdem steht auf dem Gelände ein großes Transparent mit den Worten „Nie wieder Krieg“ in fünf Sprachen, darunter auch in Ukrainisch.

Alexander Becker ist mit seiner Familie extra für dieses Ereignis nach Berlin gekommen. Der Lübecker hat einen deutschen Vater und eine russische Mutter. Der 37-Jährige will seinen Kindern zeigen, dass sie gemeinsam ihre Vorfahren ehren, und bleibt auch bis zum Montag. „Geschichte ist nicht vergessen“, sagt er und meint vor allem die sowjetische Geschichte. „Ukrainer und Russen gehören zusammen, wir waren sehr lange ein Volk.“
Seine Frau trägt ein Georgsarmband, das die Polizisten am Eingang wohl übersehen haben. Es ist orange-schwarz gestreift und wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs als Zeichen für Tapferkeit verliehen. Aktuell steht es jedoch genau wie das Z-Symbol für die Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine.
Auf dieses Armband angesprochen sagt Becker, dass er sehr wohl aufseiten der Russen stehe. Die Angriffe auf die Ukraine richteten sich nur gegen militärische Ziele und der ukrainische Botschafter sei ein „Hetzer“, der in seine „Schranken gewiesen gehört“. Er zieht aus seiner Tasche einen Mund-Nasen-Schutz, den er an den Polizisten vorbeigeschmuggelt hat: Er ist Rot und darauf sind Hammer und Sichel.

Erlaubt ist die Ukrainische Flagge zum Beispiel noch am Museum Karlshorst, das bis vor kurzem Deutsch-Russisches Museum hieß. Der Museumsdirektor Jörg Morré nennt die Flagge vor dem Museum einen „Pieks“ für einige Besucher. Er meint, es störe manche, dass ein Museum so Stellung beziehe. „Aber wir sind kein sakraler Ort“, sagt er, „wir sind ein Forum für Austausch.“ Laut Morré habe das Museum schon immer sauber zwischen sowjetisch und russisch getrennt. „Die ukrainische Flagge wird hier hängen bleiben, solange der Krieg eben dauert.“


