Brutal Berlin

Nein, JFK war kein Berliner – ein paar Fakten, die Zugezogene nie kapieren

Es ist anstrengend, dass sich gerade die Zugezogenen am meisten über Berlin beschweren: zu dreckig, zu unfreundlich, zu voll. Dürfen die das?

Klischees, Klischees, Klischees: Kaum etwas anderes fällt den meisten Zugezogenen ein, wenn sie über Berlin sprechen. Das ist genauso nervig wie der überstrapazierte Berliner Bär. 
Klischees, Klischees, Klischees: Kaum etwas anderes fällt den meisten Zugezogenen ein, wenn sie über Berlin sprechen. Das ist genauso nervig wie der überstrapazierte Berliner Bär. Uroš Pajović/Berliner Zeitung am Wochenende. Bilder: imago

Rosenthaler Platz, Pik As, Freitagabend. Der Typ mir gegenüber beugt sich über den Tisch, als vertraue er mir gleich sein größtes Geheimnis an. „Ich hab da so eine supercoole Ecke entdeckt“, flüstert er, „der Mauerpark, ist vor allem am Sonntag voll nice!“ Ich kann mir nur schwer ein Augenrollen verkneifen. Was kommt als Nächstes? Dass die Museumsinsel „voll schön“ ist und ob ich denn eigentlich schon mal vom Berghain gehört habe? Alles „Geheimtipps“ eines frisch Zugezogenen, ihr versteht.

Ich bin eine Berlinerin. Das muss ich jetzt noch einmal so sagen, auch wenn dieser Satz, ausgesprochen von John F. Kennedy am Schöneberger Rathaus vor genau 60 Jahren, einen ziemlichen Bart hat. So weit, mich als ein Berliner Urgestein zu bezeichnen, würde ich nicht gehen.

Aber ich bin auch: eine 18-Jährige, Ost-Berlinerin, Studentin und Amateur-Fußballerin. Wahrscheinlich gibt es viele Zugezogene, die viel mehr von Berlin kennen als ich. Tatsächliche Berliner Urgesteine sind meine Großeltern Jochen und Christa. Das oberste Geschoss des wunderschönen Altbaus an der Ecke Kollwitz- und Sredzkistraße gegenüber vom Sowohl Als Auch hatte zu Ostzeiten ihnen gehört.

Die Wende 1989: Nicht alle haben gefeiert

Dann kam die Wende, doch die war bei ihnen irgendwie anders. Nicht alle haben gefeiert. Meine Großeltern zogen sich zurück ins Ost-Berliner Hinterland, so weit in den Osten, wie nur möglich. Das sagen wir immer, wenn wir dorthin fahren. Manche sagten etwas von „knallroter politischer Überzeugung“. Sie gingen auch, um den vielen Zugezogenen zu entfliehen. Eigentlich meinten sie die Wessis, die fleißig den frisch dazugekommenen Ost-Berliner Wohnungsmarkt aufkauften. Jetzt leben sie den Plattenbautraum, den zu Ostzeiten so viele Menschen träumten: in Marzahn-Hellersdorf. Müllschlucker, fließend warmes Wasser, alles da.

Neuerdings haben sie auch im Alltag Probleme, wenn sie sich innerhalb des S-Bahn-Rings aufhalten. Oma Christa rief mich neulich an, ich sollte ihr beim Bestellen helfen. Die Bedienung im Café in Prenzlauer Berg, in dem sie mit Opa Jochen saß, verstand nur Englisch.

Dieses Reden über Osten und Westen, das gibt es auch unter jungen Berlinern. Ein Test, um zwischen Nichtberlinern und Berlinern in meinem Alter zu unterscheiden, ist die Frage, ob sie sich als Ossi oder Wessi identifizieren. Obwohl meine Generation eigentlich nichts mehr mit der DDR oder Ost- und Westdeutschland zu tun hat, ist es bei Berlinern noch sehr präsent. Ich bin ein Ossi, meine Freundin aus Moabit ist ganz klar ein Wessi, und mein Freund aus Miami ist der Ami.

Neulich saß ich mit Freunden im Bechereck in Neukölln. Wir stritten. Thema: Berliner Schnauze. Aber wir, die Berliner in der Runde, wollten nur unsere Meinung gelten lassen. Wir sagten: „Ach, sei leise, bist sowieso zugezogen.“ So geht das bei uns oft: Berliner versus Zugezogene. Natürlich können auch Nicht-in-Berlin-Geborene zum festen Teil der Stadt werden, sich gut auskennen und bei Berliner Themen mitreden. Aber richtige Atzen sind sie dann trotzdem nicht. 

War kein Berliner und hat das natürlich auch nicht so gemeint: John F. Kennedy bei seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus.
War kein Berliner und hat das natürlich auch nicht so gemeint: John F. Kennedy bei seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus.epd

Als der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 auf dem Balkon am Schöneberger Rathaus stand, sammelten sich vor ihm rund 400.000 West-Berliner. Er hielt eine euphorische Rede darüber, wie wichtig Solidarität in Zeiten wie diesen sei, dass die Kommunisten verlieren würden, und dann sagte er ganz am Ende, dass er stolz sei, diese Worte sagen zu können: „Ich bin ein Berliner.“

JFK war natürlich genauso wenig Berliner, wie es die Zugezogenen sind. Er war vor allem Brookliner, kein Schreibfehler, Brookline ist eine Kleinstadt in Massachusetts. Wie viele Neuberliner war JFK Kleinstädter. Auch bei ihnen verstehe ich nicht, warum sie sich Berliner nennen müssen. Wie wärs mit ein bisschen Lokalstolz?

Eine Liste von Beschwerden

Wo ich aber wirklich empfindlich bin, ist, wenn sich die Zugezogenen über Berlin aufregen. Die Themen sind oft ähnlich: wie unfreundlich die Menschen sind, wie dreckig alles doch ist oder wie unverständlich die Berliner Schnauze. Naivität und Arroganz sind, wenn sie zusammen auftreten in einer Person, besonders unerträglich. Meine Oma sagte zum Thema Berliner Schnauze: „Dit is doch Mumpitz! Wer das sagt, hat keene Ahnung.“

Wer Berliner tatsächlich für unfreundlich hält, schaut oder hört nicht richtig hin. Klar wird niemand in der Kneipe oder beim Bäcker mit einem warmen Lächeln begrüßt. Trotzdem stehen Berliner auf, wenn ältere Herren in der U-Bahn keinen Sitzplatz finden; Berliner packen an, wenn eine Mutter Schwierigkeiten hat, den Kinderwagen eine Treppe hochzubringen. Wer oberflächlichere Floskeln und Nettigkeiten lieber mag, soll doch nach Bayern zu ziehen! 

Meine Düsseldorfer Cousinen und Cousins waren vor zwei Monaten zu Besuch. Gut, sie waren als Touristen in der Stadt, aber sagten trotzdem Sachen, mit denen sich auch Zugezogene unbeliebt machen: „Sag mal was auf Berlinerisch“, verlangten sie, als wir mit meinen Freunden in der Kulturbrauerei Billard spielten. Wir sind doch keine trainierten Hunde.

Am Morgen das nächste Missverständnis: Anstatt zum Edelbäcker „Zeit für Brot“ mit englischer Bedienung zu gehen, führten wir sie in einen kleineren Ostschuppen. Als meine Cousinen Brötchen bestellten, verbesserte die Dame hinter der Theke sie schroff: „Ach so, ihr wollt Schrippen.“ Meine Cousine schüttelte den Kopf und begann, das Wort Brötchen zu buchstabieren. Die Bäckerin knallte die Tüte auf die Theke.

Ein Versöhnungsversuch

Trotzdem, Berlin ohne die Zugezogenen wäre auch nicht meine Stadt, zumal sie inzwischen mit 54 Prozent die Mehrheit stellen. Und selbst Touristen bereichern manchmal meinen Alltag: Ohne die verwirrten Touris am Checkpoint Charlie wäre es dort noch trostloser. Und Orte wie die Mall of Berlin und das Restaurant in der Fernsehturm-Kugel wären schon längst pleite. Denn: Weder meine Freunde noch ich haben diese Orte je betreten. Wahrscheinlich würde ich da oben stehen, auf mein Berlin herabschauen, Menschen wie Ameisen, Tempelhofer Feld, Prenzlauer Berg – das alles würde ich sehen und unbewusst die ganze Zeit den Fernsehturm suchen. 


Mia Conrads ist Praktikantin der Berliner Zeitung. Sie wurde 2004 in Berlin geboren und studiert Journalistik und Politikwissenschaft.