Der Berliner Brückenstreit könnte bald eskalieren – und in eine Klage münden. Der Senat will die marode Mühlendammbrücke, eine der am stärksten befahrenen Spreequerungen von Berlin, abreißen und in ähnlichen Dimensionen wieder aufbauen. Doch Bürger und Verbände sind dagegen, dass die Verkehrsschneise in Mitte erhalten bleibt. Sie wollen die Verwaltung dazu auffordern, die Auswirkungen auf die Umwelt untersuchen zu lassen. „Wenn sie diesen Wunsch nicht erfüllt, wird die Umweltverträglichkeitsprüfung vor Gericht eingefordert“, kündigte Benedikt Goebel vom Bürgerforum Berlin an. Dazu stünde der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, kurz BUND, bereit. Auch die benachbarte Gertraudenbrücke soll neu entstehen. Aber auch dort gibt es Kritik, dass die „Stadtautobahn“ bleiben soll. Ebenfalls am Donnerstag stellten der Grünen-Politiker Stefan Lehmkühler und seine Mitstreiter einen Alternativplan für diesen Bereich vor.
Verpasst der Senat eine historische Chance?
Es geht nicht nur um zwei Brücken, die zu DDR-Zeiten während der 1960er-Jahre entstanden und für die nun Nachfolgelösungen entworfen werden müssen. Es geht auch um eine wichtige Frage: Wie viel Platz sollen Autos in Berlin künftig haben? Die beiden Bauwerke sind Teil einer Verkehrsschneise, die zu einer Zeit durch das Stadtzentrum geschlagen wurde, als die autogerechte Stadt auch im Osten noch als das Maß aller Dinge galt. Heute ist der Straßenzug, zu dem unter anderem die Leipziger und die Grunerstraße gehören, mit mehr als 70.000 Kraftfahrzeugen pro Tag eine der am stärksten genutzten Ost-West-Verbindungen in Berlin. Soll er es bleiben? Oder sollte jetzt nicht die Chance genutzt werden, den Platz fürs Auto auf ein verträgliches Maß zurechtzustutzen? Andere Akteure, etwa beim ADAC und in der Baukammer Berlin, fordern für die Zukunft eine leistungsfähige Verbindung. Die Strecke sei wichtig für das Funktionieren Berlins.
Benedikt Goebel zeigt in Richtung Spittelmarkt. „Das war einmal der lebendigste Platz von Berlin“, sagt der Historiker. Die Zahl der Passanten war viel höher als am Potsdamer Platz. Heute ist der Spittelmarkt vor allem ein Knotenpunkt des Autoverkehrs, Fußgänger suchen schnell das Weite. Die Planung für die benachbarte Gertrauden- und Mühlendammbrücke werde die prekäre Lage konservieren, befürchten Goebel und seine Mitstreiter. Für eine unbestimmte Übergangszeit sollen die geplanten neuen Bauwerke dem Autoverkehr zwei Fahrstreifen pro Richtung bieten, so die Verwaltung. „Eine lieblose Planung“, kritisierte Goebel. Trotz aller Bekenntnisse zur Mobilitätswende mache der Senat deutlich, dass er die autogerechte Stadt fortschreiben will.

Geplant sei ein „Ersatzneubau“ für die Mühlendammbrücke, heißt es in der Verwaltung von Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne). Dafür sei weder ein Planfeststellungsverfahren noch eine Umweltverträglichkeitsprüfung, kurz UVP, erforderlich. Doch die geplante neue Brücke, die 2028 fertig werden soll, sei anders konstruiert und dimensioniert als die alte, entgegnen Benedikt Goebel und seine Mitstreiter. Was der Senat für diesen Teil der Bundesstraße 1 plane, sei als eine „erhebliche bauliche Umgestaltung“ anzusehen, so eine von den Bürgern beauftragte Anwaltskanzlei. So soll die Breite des neuen Bauwerks 87 Prozent des alten betragen. Die Fahrspuren würden nicht nur neu angeordnet, in der Mitte verlaufe künftig die Straßenbahnstrecke, die den Alexanderplatz ab 2028 mit dem Kulturforum verbinden soll. Dafür soll es anders als früher keine Parkplätze in der Mitte mehr geben.
Verwaltung muss Farbe für oder gegen Autos bekennen
Nun muss Jaraschs Verwaltung Farbe bekennen. Wird es eine UVP geben – oder nicht? Falls die Antwort nicht zur Zufriedenheit ausfällt, werde der BUND seine Klagebefugnis nutzen und vor Gericht ziehen, bekräftigte Benedikt Goebel. Auch ein Planfeststellungs- oder zumindest ein Plangenehmigungsverfahren sei rechtlich geboten, unterstrich der Berliner BUND-Geschäftsführer Tilmann Heuser am Donnerstag. „Doch das ließe sich nicht einklagen – eine UVP aber schon“, sagte er. Unterstützt wird der Verband von einem profilierten Verwaltungsrechtler aus Potsdam, Christian-W. Otto.
Die Beteiligten wissen, dass sie auch ein finanzielles Risiko eingehen. „Bislang wurden schon rund 5000 Euro ausgegeben“, berichtete Goebel. Bei Misserfolg könnte das Verfahren mit bis zu 30.000 Euro zu Buche schlagen. Doch die Bürger sind zuversichtlich, dass sich die Planung noch drehen lässt – im Interesse von Berlin.
Für Autos ein Fahrstreifen pro Richtung - und nur auf einer Seite ein Gehweg
Das hoffen auch Stefan Lehmkühler und Hendrik Blaukat, Sprecher der Interessengemeinschaft Leipziger Straße. Sie gehören einem Bündnis an, das eine „städtebaulich angemessene und dem historischen Kern der Stadt würdige Perspektive für diesen zentralen Ort“ verlangt – auch für die Gertraudenbrücke, für die der Senat ebenfalls Abriss und Neubau anstrebt. Damit, wenn auch sie in den „Dimensionen einer Autobahn“ neu entsteht, verpasse Berlin eine historische Chance, warnte Blaukat. „Die Chance, den Stadtraum neu zu ordnen, im Sinne einer Stadt, in der Menschen leben wollen.“
Stefan Lehmkühler präsentierte ein Konzept, das ohne den Neubau der Neuen Gertraudenbrücke auskommt. Stattdessen soll die daneben liegende alte Gertraudenbrücke, die derzeit für Autos tabu ist, den Verkehr übernehmen – erwartet werden vom Senat für 2030 rund 48.000 Fahrzeuge pro Tag. Dafür sei das 22 Meter breite Bauwerk, das vom Ende des 19. Jahrhunderts stammt, groß genug, hieß es. In Richtung Spittelmarkt sind ein Gehweg, ein Radstreifen, ein überbreiter Autofahrstreifen sowie eine ÖPNV-Spur für Busse und die geplante Straßenbahn vorgesehen. In Richtung Molkenmarkt gibt es eine ÖPNV-Spur und ein Auto-Fahrstreifen.
Senat könnte 79,5 Millionen Euro sparen und 46,5 Millionen Euro gewinnen
Für einen Geh- und Radweg fehlt auf dieser Seite der Raum. Zunächst könnte ein Teil der neuen Brücke stehenbleiben, um einen Fahrstreifen für Autos sowie einen Radweg zu bieten. Wenn auch er abgerissen ist, könnte man an die alte Gertraudenbrücke einen Steg anbauen, der Nichtmotorisierten auch in Richtung Osten Platz verschafft.

„Eine Ertüchtigung der alten Gertraudenbrücke wäre nicht nur ausreichend für den zu erwartenden Verkehr und stadtverträglicher“, sagte Lehmkühler, der auch beim Mobilitätswendeverband Changing Cities aktiv ist. Die öffentlichen Kassen würden mit 126 Millionen Euro profitieren, rechnete er vor. Das ist seine Kalkulation: Wenn auf den Neubau der Gertraudenbrücke verzichtet würde, ließen sich rund 40 Millionen Euro sparen. Weil Platz frei würde, entstünden Baufelder, für die sich schätzungsweise 46,5 Millionen Euro erlösen ließen. Fiele dann noch die neue Mühlendammbrücke um ein Viertel schmaler aus, könnte dies das Land um 39,5 Millionen Euro entlasten. „Pro Quadratmeter sind das 33.126 Euro“, so der Mitte-Bewohner.



