Am Montagmittag kommt Christian Lindner die Treppen zum Bahnsteig im Gesundbrunnen heruntergelaufen und wird mit Buhrufen empfangen. Es ist natürlich nicht der echte Finanzminister, Christian Lindner fährt schließlich nicht S-Bahn, sondern es ist eine überdimensionale Pappmascheefigur. Wegen seiner Absage der Fortführung des 9-Euro-Tickets steht der FDP-Politiker in der Kritik. Bei der Demonstration, die sich für eine Fortsetzung einsetzt, ist er die Personifizierung vom Ende des 9-Euro-Tickets. Hunderte von Demonstranten sammeln sich am Montagvormittag am nördlichen Drehkreuz Berlins. Ziel der Sonderzugfahrt: das Finanzministerium.
Das 9-Euro-Ticket wird am Mittwoch auslaufen, für viele bedeutet das ein Ende des Mobilitäts-Sommermärchens. Dabei zog erst kürzlich die Deutsche Bahn eine positive Bilanz des 9-Euro-Ticket-Projekts. Die neue Regionalverkehrsvorständin Evelyn Palla teilte mit, dass allein über die Kanäle der Bahn 26 Millionen Fahrkarten verkauft wurden. Dabei ist die Zahl der insgesamt verkauften 9-Euro-Tickets noch unbekannt. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) möchte dazu in den kommenden Tagen Zahlen veröffentlichen. Allein im Juni und Juli fanden 38 Millionen Karten ihren Weg ins Portemonnaie oder Handy. Es wird mit über 50 Millionen verkauften 9-Euro-Tickets während der drei Monate gerechnet.

Organisiert wurde diese Sonderzug-Demonstration unter anderem von den Nichtregierungsorganisationen Campact und Greenpeace. Sie kündigten für die kommenden Wochen weitere Proteste an. Einen Appell zur Verlängerung des 9-Euro-Tickets bis Jahresende unterzeichneten bisher über 454.000 Menschen. Auch die berühmte Klimaaktivistin Luisa Neubauer sprach am Ende der Veranstaltungen und deutete einen debattenreichen Herbst an.
Für sie ist Lindners Verzicht zur Fortführung des 9-Euro-Tickets eine „Arbeitsverweigerung“. Es sei „nach diesem Krisensommer“ eine logische Konsequenz, dass der öffentliche Personennahverkehr kostenlos werde. „In all diesen krisengebeutelten Zeiten brauchen wir auch Lichtblicke“, sagte sie. Sie führte auch soziale Argumente für dieses Ticket an: „Wir dürfen niemanden zurücklassen.“
Nachfolgeregelungen werden zwar eifrig diskutiert, ein schnelles Angebot ist jedoch nicht realistisch. Im Sonderzug zum Potsdamer Platz diskutieren zwei 55-jährige Berlinerinnen über mögliche Folgeszenarien. „Bei 29 Euro würde ich noch mitmachen, 49 Euro finde ich schon zu viel“, sagen sie.
Angekommen am Potsdamer Platz sind es noch 500 Meter bis zum Finanzministerium. „Was wollen wir?“, schreit eine Demo-Veranstalterin ins Megafon. „9-Euro-Ticket!“, antwortet die Menge. „Wann wollen wir es?“, hört man lautstark. „Jetzt!“, antworten Hunderte der Protestierenden. „Wie lange wollen wir es?“, fragt die Person am Megafon. „Für immer“, brüllen die ca. 500 Personen. Die Stimmung ist friedlich, nur manchmal merkt man den wachsenden Unmut gegen Christian Lindner und Co. In Sichtweite des Finanzministeriums wird ein „Ganz Berlin hasst die FDP!“ angestimmt.
Der Finanzminister hat einer Nachfolgeregelung bisher eine Absage erteilt. Im Bundeshaushalt sei kein Geld für solch eine Finanzierung, so die Argumentation des FDP-Politikers. Zudem monierte er eine „Gratismentalität“ und „nicht faire“ Bedingungen. So sollen Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe haben und auf das Auto angewiesen sind, das Ticket subventionieren. Nutzer in sozialen Medien kritisierten Aussagen Lindners, wonach besonders linke Gruppen wie die Antifaschistische Aktion (Antifa) sich für eine Verlängerung des 9- Euro-Tickets einsetzten.

