Berlin-Die Ursache der Oder-Katastrophe ist noch immer nicht geklärt. Als sicher gilt: In der tödlichen Welle waren Salze, die wohl aus dem Kohleabbau stammen und in den Fluss geleitet wurden. Sie waren wohl ein Anstoß für die Katastrophe. Doch der Fluss leidet auch unter dem Klimawandel, seit Wochen fehlt Regen und die Hitzewelle hört nicht auf. Durch das extreme Niedrigwasser in der Oder kann das Gift besonders viel Schaden anrichten. Ein Gespräch mit Christiane Schröder, Brandenburger Geschäftsführerin des Naturschutzbundes (Nabu), darüber, dass die aktuelle Giftwelle zwar vorbei ist, dass dies aber längst nicht das Ende der Katastrophe sein muss.
Frau Schröder, erst einmal eine Frage zur Einordnung: Gab es an der Oder schon mal eine vergleichbare Naturkatastrophe?
Mir ist keine vergleichbare Katastrophe bekannt. Und für die Einordnung ist auch wichtig: Klimawandel und die aktuelle Dürre spielen eine wesentliche Rolle für diese Katastrophe, aber selbst wenn die Oder in diesem Sommer einen normalen Wasserstand gehabt hätte, hätte die Einleitung von solchen Mengen an Schadstoffen massive Auswirkungen gehabt.
Können Sie nationale oder internationale Vergleiche ziehen?
In dieser Größenordnung gab es den Chemieunfall 1986 am Rhein und vor zwei Jahren einen ähnlichen Fall in Tschechien an der Moldau. In beiden Fällen war eine Sache anders: Dort war schnell klar, was die Ursache war. Das ist an der Oder aber eben noch nicht geklärt.
Eine weitere wichtige Frage lautet: Ist die tödliche Welle einmal komplett von Mittelpolen bis hinauf zur Ostsee durch die Oder durch?
Die aktuelle Welle ist durch. Ich sagte „aktuell“, weil es durchaus auch sein könnte, dass es bereits zwei Wellen gegeben hat. Es gibt Spuren, die wir am Uferbereich gefunden haben. Wir haben uns die abgestorbenen Muscheln und Schnecken angeschaut und festgestellt: Da gibt es in unterschiedlichen Höhen zwei Todeszonen am Ufersaum. Die eine Todeszone ist etwa 20 Zentimeter höher als die andere. Da könnten also auch zwei Wellen kurz hintereinander durchgegangen sein.

Die gebürtige Wernigeröderin studierte Biologie in Kassel und Potsdam, engagiert sich im Fledermausschutz, in der Umweltbildung und leitete bis 2015 das Wolf-Akzeptanz-Projekt des Nabu. Die Mutter dreier Töchter lebt in Brück.Wolfgang Ewert/NABU
Wie müssen wir uns die Wirkung vorstellen: Sind da jetzt alle Lebewesen gestorben, von den Bakterien über die winzigen Krebse bis zu großen Welsen?
Nein, alle sowieso nicht. Viele Bakterien überleben auch so etwas, aber auch bei ihnen verschiebt sich die Zusammensetzung der Arten. Wir haben vor Ort auch noch lebende Muscheln, Krebstiere und auch Fische gesehen. Bei den Fischen ist der überwiegende Teil gestorben, aber nicht alle. Und etwa 40 bis 50 Prozent der Muscheln.
Warum die Fische?
Die Salze im Wasser führen zu einer Verätzung der Kiemen. Wenn die Kiemen verätzt sind, können sie keinen Sauerstoff mehr aufnehmen. Das kann dann bei größeren Tieren schneller zum Tod führen.
Die Hitze hält an. Wegen der mehr als 100 Tonnen toter Fische stinkt es an der Oder. Die Kadaver sind aufgebläht und zerfallen. Muss da nicht mit massiven Folgen und Krankheiten gerechnet werden?
Das hängt von vielen Faktoren ab. Mit Sicherheit gibt es jetzt eine enorme Entwicklung von diversen Fliegenarten, die die Fischkadaver am Ufer als Brutstätte nutzen. Dazu kommt die Frage: Was spielt sich im Gewässer ab? Da ist nun sehr vieles organisches Material durch die toten Tiere. Wenn dieses Material zersetzt wird, kommt es zu einem enormen Wachstum von Bakterien und Algen, die üblicherweise von Muscheln gefressen werden. Sie würde das Wasser dann wieder reinigen. Aber die Muscheln sind ebenfalls zu einem beachtlichen Teil tot. Es kann zu einer weiteren Todeswelle kommen. Das könnte passieren, wenn die überlebenden Muscheln im Sediment nicht genug Sauerstoff bekommen.
Wird dann die gesamte Oder tot sein?
Das nicht, denn es ist ein Fließgewässer, und es kommt auch jetzt frisches Wasser aus der Neiße und anderen Zuflüssen. Und auch neue Fische. An der Oder gibt es auch noch die eine oder andere kleine Bucht, in der sich Tiere zurückgezogen haben. Es gibt immer noch Nischen. Deshalb ist es wichtig, den Fluss nicht weiter zu begradigen.
Wir waren als Journalisten mal mit einem Tauchboot im Helenesee bei Frankfurt (Oder) unterwegs. Der war einst eine Kohlegrube, die bereits in den 70er-Jahren geflutet wurde. Auch viele Jahrzehnte später war der See nicht gerade ein artenreiches Gewässer. Wie sieht das in einem vergifteten Fluss aus?
Anders als bei einem Tagebaurestloch ist ein Fluss, wie gesagt, ein Fließgewässer. Er wird viel schneller durchgespült und anders als bei einer ehemaligen Kohlegrube sickern auch nicht ständig neue Schadstoffe vom Kohleabbau vom Ufer oder aus dem Boden ins Wasser. Es wird also schneller gehen, dass die Oder sich erholt. Aber Prognosen kann noch niemand wagen.
Was muss mit dem Oderausbau geschehen?
Der Fluss darf nicht weiter für die Schifffahrt begradigt werden. Die Oder muss wieder mehr Raum bekommen. Es muss mehr Wasser in der Landschaft gehalten werden, damit es nicht so schnell in die Ostsee abfließt.
Es ist schon absurd, dass die Menschen bestimmte Arten von Schiffen bauen und dann die Flüsse ausbaggern. Also die Flüsse den Schiffen anpassen und nicht umgekehrt, oder?
Genau, deshalb versuchen wir seit Jahren, den Oderausbau zu stoppen. Ein Aktionsbündnis verschiedener Naturschutzverbände hat geklagt und gewonnen. Aber der Gerichtsbeschluss interessiert die polnischen Behörden wenig. Eigentlich gar nicht. Die bauen einfach weiter.
Was sind die weiteren Forderungen der Umweltschützer?
Die oberste Forderung ist, dass die Verursacher gefunden und die Quellen der Verunreinigung geschlossen werden. Dass es so lange dauert, bis die Verursacher gefunden sind, zeigt das Ausmaß der Probleme in Polen. Dort gibt es etliche Firmen, die Schadstoffe einleiten, wie zum Beispiel das Salzwasser in der Nähe von Wroclaw.

Weitere Forderungen?
Das eingeleitete Wasser muss sehr viel intensiver entsalzt werden, bevor es in die Flüsse eingeleitet werden darf, damit die Flüsse überhaupt eine Chance haben, mit diesen Schadstoffen klarzukommen und sich zu renaturieren. Auch die Zusammenarbeit und die Kontrollen zwischen Deutschland und Polen müssen intensiviert werden, auch die Kooperation zwischen den deutschen Bundesländern, damit im Katastrophenfall schneller gehandelt wird. Das sind die akuten Forderungen.
Und was sind die allgemeinen Schlussfolgerungen aus dieser Katastrophe?
Nicht nur an der Oder, überall in Deutschland und in ganz Europa muss umgedacht werden. Das Ziel muss sein, dass Flüsse nicht weiter begradigt werden und dass wieder mehr Wasser in der Landschaft gehalten wird. Dann würden Gifte besser verdünnt. Dann gibt es auch nicht solche massiven Probleme wie jetzt in der Dürre. Mehr Wasser in der Landschaft zu halten, ist nicht nur für die Tiere und Pflanzen in den Flüssen wichtig, sondern auch für uns Menschen. Beispielsweise für die Landwirtschaft, die auch massiv unter der Dürre leidet und niedrigere Ernten einführt. Und das Wasser ist auch wichtig für uns alle, die wir weiterhin sauberes Trinkwasser haben wollen. Es muss komplett umgedacht werden. Es wird zu einer der ganz wichtigen Aufgaben, wenn wir noch die Zeit haben wollen, auf diesem Planeten zu überleben.



