Ach Emily, wenn du in Paris mit einer Baskenmütze auf dem Kopf in ein Croissant beißt – so müsstest du in Berlin mit schwarzem Ledermantel beim Berghain anstehen. Der rote Lippenstift weicht dunklem Eyeliner. Du schlenderst in Birkenstocks über den Flohmarkt am Boxhagener Platz und schlürfst Hafermilchcappuccino. Oder noch origineller, du schlürfst Club Mate. Anstelle der Ponyfrisur schneidest du dir in Berlin klarerweise einen Vokuhila.
Selten sah man etwas so offensichtlich Klischeehaftes, Kitschiges und vor allem Amerikanisches wie die drei Staffeln der Netflix-Serie „Emily in Paris“. Da fällt es leicht, sich das Drehbuch für eine Berlin-Version auszudenken.
„Heute nicht.“ – „What? Pourquoi?“, fragst du entgeistert, aber da wurdest du schon an der Eingangstür vorbeibugsiert. Dabei hattest du dich extra aufgebrezelt fürs Berghain. In Paris erobertest du mit deinem überschwänglichen Lächeln und deiner zuckersüßen Art doch alle Herzen – wie konnte dein enthusiastisches „Hi guuys“ die Türsteher nur so kalt lassen? Fünf Stunden umsonst angestanden, merde, I mean, scheiße. Es hätte dich bestimmt getröstet, zu erfahren, dass die Handykameras drinnen abgeklebt werden. Das wäre für dich als Hobby-Bloggerin sowieso nichts gewesen, schließlich muss alles für die Instagram-Community gefilmt werden.
Schon ab der ersten Staffel stand für mich fest: Ich mag dich, Emily Cooper, nicht. Diese Outfits! Quelle horreur! Mit dem gleichen missbilligenden Blick wie der von deiner Chefin Sylvie Grateau, einer Pariser Version von Miranda Priestly (aus „Der Teufel trägt Prada“), beäugte ich deine schmerzhaft schrillen Outfits. Diese grellen Neonfarben und ausartend vielen Muster passten weder zueinander noch zum modernen Pariser Chic. Und trotzdem: Obwohl du weder ein Wort Französisch konntest, noch Gefühl für den französischen esprit besessen hast, flog dir alles zu: Eine Marketingkampagne nach der anderen hast du mit Bravour gemeistert. Dann verliebte sich noch Gabriel, der gut aussehende Restaurantchef, in Dich. Alle lieben dich, Emily. Außer Sylvie und mir.
Zwischen Brandenburger Tor, Yoga und sexpositiven Taschen
Wie also würde Dein Drehbuch in Berlin aussehen? Würdest du die ganze Zeit in Sichtweite des Brandenburger Tors herumlaufen? Kein Berliner würde sich am Pariser Platz zum Kaffee verabreden. Genauso wenig treffen sich Franzosen in der Mittagspause vor dem Louvre. Bei „Emily in Paris“ schon. Schließlich muss bei jedem Shot der Eiffelturm oder eine Touristenattraktion im Bild sein. Deswegen schlage ich vor, dass sich die Berliner Version im Ein-Kilometer-Radius rund ums Brandenburger Tor abspielt – und das dramatische Finale findet im 360-Grad-Restaurant des Fernsehturms statt. Die Herausforderung fürs Team: Der Alex muss romantisch wirken!
Wo wirst du arbeiten, Emily in Berlin? Die heimische Modebranche ist nicht so traditionsreich wie die in Paris. Also: Emily in der Start-Up-Hölle. Aber keine Sorge, hier hast du keine garstige Sylvie Grateau als Chefin, sondern eine entspannte non-binäre Person Deines Alters, die dir sagt, dass hier erst um 14 Uhr angefangen wird zu arbeiten. Hast du Lust, um 17 Uhr zum Teambuilding-Yoga zu gehen? Danach steht ein Meeting mit Namilia an, einer sexpositiven Streetwear-Marke aus Kreuzberg. In der neuen Kollektion, neben Rave-Klamotten: Ohrringe und Taschen in Penisform. So Berlin! Wenn wir schon bei Klamotten sind: Deine musst du dringend ändern, Emily.
Arm, aber sexy, das ist Berlin ... oder?
Nächste Szene, traurig sitzt du vor deinem knallbunten Kleiderhaufen aus Paris. Am Charlottenburger Kudamm hast du noch anerkennende Blicke für deine Glam Couture abstauben können, in Friedrichshain, Neukölln, Wedding: jamais! Dort wurde dir gesagt, dass eine Handtasche von Gucci erst dann cool sei, wenn sie Vintage ist. Dabei ist deine aus der neuesten Kollektion und hat über 7000 Euro gekostet! Das ist bei den Friedrichshainer Antikapitalisten kein Pluspunkt, Emily. Wie sagte dieser Berliner Hipster trocken zu dir: „Wirkliche Profis gehen zu ‚Humana‘. Modegespür beweist du, wenn du im Chaos der Secondhandläden ein Outfit findest... für unter zehn Euro.“
Liebe Emily, hier in Berlin darf es ruhig trashy sein! Probier’s doch mal mit Leopardenmuster. Und das Leder ist nicht „abgewetzt“, das heißt used look. Außerdem: Berliner lieben Stilbrüche. Manche deiner unmöglich kombinierten Outfits würden hier sogar auf seltsame Weise gut ankommen. Think about it, Emily! Berlin Mitte allerdings verwandelt sich immer mehr zu einer Hochburg skandinavischer Marken, deswegen würde ich Dir dort einen schlichten oversized Blazer mit lockerer Stoffhose und Sneakern empfehlen.
Von Axel Arigato zum Beispiel, da kannst du gleich in der Weinmeisterstraße in den Store gehen und die nächste Kampagne einsacken. Aber vergiss nicht: Alles hier in Berlin dreht sich am Ende des Tages um die Technoszene. Das hat auch Axel Arigato verstanden, der Store wurde damals mit einem Zehn-Stunden-Rave eröffnet. Beim Technofeiern tragen übrigens alle schwarz, Latex und Leder. Berlin ist rau, deswegen kommst du mit Glitzer-Make-Up nicht ins Berghain rein. Los, tausch deine Stilettos gegen klobige Boots, dein Sommerkleid gegen Ledergeschirr, und den Markenfummel gegen Selbstgehäkeltes. Nur zu, her mit den Klischees!
Nachdem ich deine zweite Staffel zu Ende geschaut hatte, schwor ich mir, diesen überzogenen Kitsch-Quatsch nicht mehr weiterschauen. Und trotzdem, sobald die dritte Staffel erschien, erwischte ich mich, wie ich verstohlen begann, Folge für Folge anzuschauen. Mit Verwunderung stellte ich fest, dass meine Missbilligung allmählicher Begeisterung wich – diese metallischen, hochhackigen Stiefel, diese lilafarbene Wolke von einem Kleid, dieser perfekt sitzende Hosenanzug! Endlich konnte ich aufatmen. Endlich transformiertest du dich modetechnisch mehr und mehr zur echten parisienne, beziehungsweise: Du fandest deinen eigenen Stil.



