Berlin-Ein Schultag vor den Osterferien. Die Klasse 7a des Lessing-Gymnasiums im Wedding kramt ihre Schnelltestbescheinigungen aus der Tasche, Lehrer Andreas Born geht durch die Reihen und checkt alle Ergebnisse. Die Stunde beginnt wie viele andere seit Ausbruch der Pandemie, aber was dann kommt, unterscheidet sich gründlich vom Programm in den Parallelklassen.
Während man dort noch über den unregelmäßigen Verben brütet, beschäftigen sich die Lernenden hier mit der Entstehung von Städten in verschiedenen historischen Epochen. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in Kleingruppen, manche produzieren einen Podcast darüber, andere erstellen ein Video aus Minecraft-Grafiken, das sie auf Englisch kommentieren. Das Projekt verbindet die Fächer Geschichte und Englisch und ist Teil des „Enrichment“-Moduls für besonders begabte Kinder.
Die 7a ist eine sogenannte Schnelllernerklasse, deren Stundenplan etwas umgestrickt ist: Die Klasse hat jede Woche fünf Stunden weniger regulären Unterricht, das entspricht dem Prinzip der Acceleration, also der Beschleunigung. Dadurch wird Platz freigeräumt für die Enrichment-Kurse, die die Schülerinnen und Schüler ihren besonderen Fähigkeiten entsprechend fördern. Sie machen vertieftes Lernen zu Themen wie digitale Medien, Cinéma français oder Architektur möglich.
In eine Schnelllernerklasse wird nur aufgenommen, wer mit überdurchschnittlichen Leistungen von der Grundschule kommt und zusätzlich einen Eignungstest besteht. So wie Roan Parsch, 12, lange Haare und Brille, aus der 7a, der hochbegabt ist. Seine Hochbegabung wurde schon vor der Einschulung diagnostiziert, er hat bereits die Klassen eins bis sechs an einer darauf spezialisierten Grundschule verbracht. Über diese Zeit sagt er: „Das war schnelles Lernen, so wie ich es mag.“ Auch hier am Lessing fühlt er sich gut aufgehoben unter den Schnelllernern, er ist außerdem Mitglied in der Computer-AG, wo er frei programmiert, und in der Redaktion der Schülerzeitung.
Zufällig genial? Am Schwarzen Brett winken die Wettbewerbe
Insgesamt besuchen knapp 750 Schülerinnen und Schüler das Lessing-Gymnasium, von denen etwa 30 hochbegabt getestet sind. Die Schule ist seit Mitte der 1990er-Jahre in der Begabtenförderung profiliert. Läuft man durch die Flure, fällt einem an jeder zweiten Ecke eine Vitrine ins Auge, in der sich Pokale und Urkunden stapeln, die die Schülerschaft bei „Jugend forscht“ oder der Mathematik-Olympiade gewonnen hat. Vom Schwarzen Brett winken schon die nächsten Gelegenheiten: Ein Plakat wirbt mit dem Slogan „Zufällig genial?“ für die Teilnahme am „Jugend forscht“-Wettbewerb 2022, ein anderes für ein Schnupperstudium ab 16 Jahre.
In Berlin gibt es insgesamt sieben Gymnasien, die Schnelllernerklassen ab der fünften Jahrgangstufe anbieten. Das Prinzip von Acceleration und Enrichment ist die Grundlage der Arbeit in allen Schnelllernerklassen, darüber hinaus stehen den Schüler:innen noch freiwillige Angebote offen, die sie ihren Interessen entsprechend auswählen können. Am Lessing reicht die Palette der Nachmittagsangebote von Astronomie über Philosophie bis zu Green Science.
- Lessing-Gymnasium (Wedding)
- Dathe-Gymnasium (Friedrichshain)
- Rosa-Luxemburg-Gymnasium (Pankow)
- Werner-von-Siemens-Gymnasium (Nikolassee)
- Albrecht-Dürer-Gymnasium (Neukölln)
- Otto-Nagel-Gymnasium (Biesdorf)
- Humboldt-Gymnasium (Tegel)
Die Frage, wie besonders oder hochbegabte Schülerinnen und Schüler im öffentlichen Schulsystem gefördert werden können, ist durchaus ein Politikum. Michael Wüstenberg, der Schulleiter am Lessing-Gymnasium, findet: „Auch besonders begabte Schüler:innen brauchen eine auf sie zugeschnittene Förderung.“ Es gibt aber immer wieder Kritik an solchen Maßnahmen, weil dadurch die Leistungsspitzen aus den regulären Klassen abgezogen würden: Ihr Vorbild und ihr Input fehlten den verbleibenden Schüler:innen als Orientierung und Ansporn. Manche halten es für grundsätzlich falsch, ausgerechnet diejenigen extra zu unterstützen, die sowieso schon mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten gesegnet sind.
In den Regelklassen fallen die hochbegabten Kinder oft durch den Rost
Martina Schenkel, die Koordinatorin für die Begabtenförderung am Lessing-Gymnasium, sagt: „Besonders begabte Schüler:innen fallen in den Regelklassen oft durch den Rost.“ Diese Kinder bräuchten eine besondere Form der Ansprache und müssten in ihren Eigenheiten respektiert werden. „Sie haben zum Beispiel oft ein hohes Mitteilungsbedürfnis und wünschen sich, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet.“ Die Betreuung dieser Kinder bringe auch besondere Anforderungen für die Lehrkräfte mit sich. Einigen müsse man erst einmal das Lernen beibringen: „An der Grundschule ist ihnen alles zugeflogen, da mussten sie nur zuhören.“ So hätten viele nie Lernstrategien entwickelt, auch mit dem Thema Hausaufgaben täten sie sich öfter schwer.
Vor der Einführung des achtjährigen Gymnasiums beruhte das Berliner Konzept zur Förderung besonders begabter Schülerinnen und Schüler auf sogenannten Schnellläuferklassen, die kollektiv die achte Jahrgangsstufe übersprangen. Mit der verkürzten Schulzeit war dieses Modell aber nicht mehr praktikabel, und man stellte auf die Schnelllerner um.

Borka Derai, 15, besucht die Klasse 10a, ebenfalls eine Schnelllernerklasse am Lessing. Ihre Begabung ist besonders in den Fremdsprachen und Gesellschaftswissenschaften so überdurchschnittlich, dass sie sich in diesen Fächern schon in der Grundschule gelangweilt hat. In Englisch hat sich das nicht mal nach ihrem Wechsel in die Schnelllernerklasse geändert. Selbst die für sie konzipierten Zusatzaufgaben boten ihr nicht genügend Stoff.
Zu ihrem Glück ist die Lehrerschaft am Lessing entschlossen, für Schülerinnen wie sie passende Lösungen zu finden: Borka konnte ab Klasse sechs/sieben am Leistungskurs Englisch der Oberstufe teilnehmen. Endlich ein Angebot, das ihrem Wissensdurst entsprach. Möglich wurde das durch ein sogenanntes Drehtürmodell: Dabei bleiben Schülerinnen und Schüler grundsätzlich in ihrem Klassenverband, verlassen diesen aber zu bestimmten Zeiten, um andere Kurse zu belegen.
Ab Klasse sechs im Leistungskurs Englisch
Borka macht das mittlerweile auch im Fach Französisch: Sie besucht den Leistungskurs der Jahrgangsstufe zwölf, der sich gerade auf die Abiprüfungen vorbereitet. Für Borka ein Traum: „Dort sprechen wir über gesellschaftspolitische Fragen, die ich total spannend finde.“ Antirassimus und Antidiskriminierung sind Themen, die sie besonders beschäftigen. Sie ist im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter aus Ungarn nach Deutschland gekommen. Insgesamt haben am Lessing etwas mehr als 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine nichtdeutsche Herkunftssprache.
Weil sich ihr Lernstand häufig so deutlich von den Gleichaltrigen abhebt, sind besonders begabte Schüler:innen oft schon früh daran gewöhnt, gemeinsam mit Älteren zu lernen. Das Lessing-Gymnasium ist auch Partnerschule der Technischen Universität Berlin, die Schüler:innen können sich schon in Klasse neun für das „Studieren ab 16“ einschreiben. Sie können sogar schon Scheine erwerben, wenn sie das möchten.
Kein Dünkel, aber Mut zur Leistung
Entwickeln die Schülerinnen der a-Klassen angesichts ihrer Sonderstellung nicht schnell einen gewissen Dünkel, fühlen sich den anderen überlegen? Die Meinungen dazu gehen auseinander. Manche Schüler und Lehrer empfinden das schon so. Schulleiter Wüstenberg sieht das anders. Er erinnert daran, dass am Lessing niemand auf einer Schnelllerner-Insel lebe. Bereits ab der achten Klasse haben zumindest in den Wahlpflichtkursen alle gemeinsam Unterricht, und in der Oberstufe sitzen die Schülerinnen und Schüler aus den Regel- und den Schnelllernerklassen sowieso wieder nebeneinander. Sein Eindruck ist, dass davon alle profitieren: „Leistung ist hier an der Schule positiv besetzt.“ Für alle, die dafür geeignet sind, seien die Schnelllernerklassen ein echter Gewinn: „Das ist so wie mit Blumen, die ständig gegossen werden. Die merken gar nicht, dass sie mehr lernen.“
Miriam Vock, die seit vielen Jahren zu Begabungsförderung forscht, sagt, solche besonderen Angebote zur gezielten Förderung besonders talentierter Schüler:innen seien wichtig und funktionierten auch gut. Gleichzeitig macht sie sich dafür stark, die Begabungsförderung auch in der Breite auszuweiten: „Jedes Kind hat einen Anspruch auf eine gute individuelle Förderung.“ Wenn Schulen erfolgreich binnendifferenziert unterrichteten, also für fixer Lernende anspruchsvolle Zusatzangebote machten, könne deren Förderung auch in einer Regelklasse gut gelingen.
Die soziale Dimension berücksichtigen
Eltern rät sie, bei der Entscheidung für oder gegen die Anmeldung in einer Schnelllernerklasse die Lage ihres Kindes genau einzuschätzen: Gelingt es der Grundschule, das Kind gemäß seiner besonderen Leistungsfähigkeit zu fördern, oder ist es dort massiv unterfordert? Genauso wichtig sind aber Erwägungen, die mehr mit seinem Wesen zu tun haben: Findet das Kind leicht neue Freunde? Was will es selbst?
Manchmal könne auch das Überspringen einer Klasse eine gute Option sein. „Dabei muss man allerdings auch die sozialen Aspekte bedenken, vor allem, wenn ein Kind mehr als eine Klasse überspringen soll.“ In der Grundschule spiele der Altersunterschied noch keine so große Rolle, aber der bleibe über die Dauer der Schulzeit erhalten. Später, etwa in der Pubertät, könnten zwei Jahre Altersdifferenz einen großen Unterschied machen.
Genau hinzusehen, sei deshalb entscheidend: „Wenn besonders begabte Kinder dauerhaft unterfordert sind, kann das dazu führen, dass sie die Motivation verlieren und Schulunlust entwickeln oder sogar den Schulbesuch verweigern.“ Dann drohe die Gefahr, dass ihre Leistungen einbrächen.



