Porträt einer 16-Jährigen

Stipendiatin Ha Thu Nguyen: „Ich liebe es, über alles zu diskutieren“

Das Start-Stipendium fördert herausragende Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte. Eine von ihnen ist Ha Thu Nguyen.

Ha Thu Nguyen ist 16 Jahre alt, Start-Stipendiatin und im Landesschülerausschuss engagiert. Ihr Vater kam 1988 als Vertragsarbeiter aus Vietnam nach Ost-Berlin, ihre Mutter floh über Moskau.
Ha Thu Nguyen ist 16 Jahre alt, Start-Stipendiatin und im Landesschülerausschuss engagiert. Ihr Vater kam 1988 als Vertragsarbeiter aus Vietnam nach Ost-Berlin, ihre Mutter floh über Moskau.Benjamin Pritzkuleit

Berlin-In ihrem hellen Trenchcoat steht sie da und wartet. Ha Thu Nguyen ist gerade 16 geworden. Sie geht in die elfte Klasse des Immanuel-Kant-Gymnasiums in Lichtenberg und engagiert sich dort schon seit vielen Jahren in der Schülervertretung. Und sie ist Start-Stipendiatin, sie gehört zu den Auserwählten des Berliner Jahrgangs 2020.

Los geht’s, wir sind zum Spazierengehen verabredet, ich hole Ha Thu von der Schule ab. Mit ihrer fröhlichen, fast zwitschernden Stimme erklärt sie mir, dass die Start-Stiftung herausragende Schüler mit Einwanderungsgeschichte fördere. Was für Noten sie hätten, sei nicht entscheidend. Was zähle, das seien Persönlichkeit, Haltung und der Wunsch, in dieser Gesellschaft etwas zu verändern.

Gleich von mehreren Lehrerinnen, erzählt sie, sei sie angesprochen worden, ob sie Lust hätte, sich für ein solches Start-Stipendium zu bewerben. Klar hatte sie Lust – also hat sie eine Online-Bewerbung losgeschickt, ein Aufnahmegespräch bestritten. Und wurde angenommen.

Der Wille, in dieser Gesellschaft etwas zu verändern

Die Start-Stiftung existiert seit 2002. Inzwischen gibt es ein Netzwerk von 3000 Alumni, die einander ermutigen können. „Lauter Menschen, die viel erreichen wollen und sich nicht abschrecken lassen von diesem: Das kannst du nicht erreichen, du bist ja nicht mal deutsch!“, sagt Ha Thu und ergänzt dann: „Menschen, die so jung sind und schon so weise – vielleicht, weil sie schon so viel durchgemacht haben. Nicht alle sind ja in Deutschland geboren so wie ich. Manche haben unglaubliche Fluchterfahrungen.“

Bewerben für eines dieser Stipendien können sich Schüler, die mindestens in die neunte Klasse gehen und noch drei Jahre Schule vor sich haben. Workshops, Studienreisen und Ausflüge begleiten die Jugendlichen auf ihrem Weg zum Schulabschluss. Am Ende des Programms wird es gern gesehen, wenn sie sich in einem gemeinnützigen Projekt engagieren.

Durch das Stipendium kommt Ha Thu mit einer anderen Welt in Berührung. „Für viele meiner Klassenkameraden“, sagt sie, „ist es normal, dass sie von ihren Eltern mal ins Theater mitgenommen werden oder ins Museum. Meine Eltern würden nie auf die Idee kommen, und sie hätten auch gar nicht die finanziellen Mittel dazu. Neulich waren wir zum Beispiel mit unserer Start-Gruppe in der Berliner Philharmonie. Ich wusste gar nicht, dass klassische Musik so schön sein kann.“

Berührung mit einer anderen Welt

Wir spazieren durch die Straßen rings um den Boxhagener Platz, wo sie zu Hause ist. „Das ist absolut keine sichere Gegend“, sagt Ha Thu. „Das Auto meines Schwagers wurde schon mal von Hausbesetzern angezündet. Und in unsere Erdgeschosswohnung ist schon zweimal eingebrochen worden. Einmal wurde mein Schmuck mitgenommen. Die dachten wohl, der wäre echt.“

Auch an ihrer Grundschule kommen wir vorbei, der Zille-Grundschule. Daneben, auf einer Brandmauer, das haushohe Gemälde eines Mädchens mit blassblauen Schmetterlingsflügeln: „Man sagt ja, dass man die Flügel von Schmetterlingen nicht berühren darf, weil sie sonst nicht mehr fliegen können“, sagt Ha Thu. „Ein passendes Bild für eine Grundschule. Kinder darf man auch nicht verletzen.“

Wandbild neben dem Eingang der Zille-Grundschule in Friedrichshain: Das Mädchen mit den blassblauen Flügeln.
Wandbild neben dem Eingang der Zille-Grundschule in Friedrichshain: Das Mädchen mit den blassblauen Flügeln.Benjamin Pritzkuleit

„Meine Grundschulzeit war nicht die Hölle, aber nicht schön“, sagt die Sechzehnjährige. Sie wurde oft gehänselt, weil sie nicht Anna oder Maria hieß, sondern Ha Thu. Oft hätten die Kinder sich neben sie gestellt und geniest: Hatschi! Hatschu! Ha Thu! Sie habe ihren Eltern erzählt, dass sie in der Schule geärgert wird, aber die hätten nicht so richtig verstanden, was da passiert. „Ich glaube, damals war ich ein asoziales und ziemlich trotziges Kind.“

Eigentlich wollte Ha Thu schon nach der vierten Klasse aufs Gymnasium. „Ich habe mich danach gesehnt, weil ich irgendwie schon geahnt habe, dass es mir da besser gehen würde. Aber meine damalige Lehrerin hat gesagt, nein, ich würde das nicht schaffen und meine Noten würden absacken – was nicht stimmte. Auf dem Gymnasium hatte ich dann sehr viel bessere Noten als in der Grundschule.“ In der fünften Klasse bekam sie eine neue Lehrerin, die ihr Mut machte, aufs Gymnasium zu wechseln.

Fast hätte sie nicht aufs Gymnasium gehen können

„Ich habe an verschiedenen Stellen Glück gehabt. Aber wie leicht hätte ich eine Bildungsbiografie haben können, mit der ich gar nicht zufrieden wäre.“ Noch immer geschieht Diskriminierung ziemlich systematisch beim Übergang in die weiterführenden Schulen, auch und gerade in Berlin. „Viele aus meiner Grundschulklasse sind auf die schiefe Bahn geraten. Eine ist drogenabhängig geworden, eine hat versucht, sich das Leben zu nehmen und eine wurde ermordet.“ Sie zögert einen Moment. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass so ein Mensch nicht mehr da ist. Früher haben wir Fahrradtouren gemacht und ich habe sie sehr bewundert, weil sie so gestrahlt hat und mit allen befreundet war.“

Als wir in ihre Straße einbiegen, wird Ha Thu noch ein wenig stiller und zeigt mit steifem Arm auf das Haus, in dem sie seit vierzehn Jahren mit ihrer Familie wohnt. Auf die Frage, ob ihre Eltern in Deutschland gut Fuß gefasst hätten, lacht Ha Thu verlegen. „Nein, das kann man leider nicht sagen. Meine Eltern hatten im Grunde keine Chance, Deutsch zu lernen. Sie haben immer sehr hart gearbeitet in Jobs, in denen die deutsche Sprache keine Rolle spielte. Und die Arbeit war für sie eine Frage des Überlebens. In ihrem deutschen Alltag haben sie beides erfahren: Herzlichkeit und unfassbaren Hass. Bis heute habe ich nie verstanden, dass Menschen so hassen können, nur weil es Menschen gibt, die etwas anders aussehen als sie“, sagt Ha Thu.

Dass Menschen so hassen können!

Der Vater hat diesen Hass am eigenen Leib zu spüren bekommen. Eines Nachts wurde er auf der Straße von einer Männerclique zusammengetreten, ohne Vorwarnung und nur, weil er offensichtlich ausländischer Herkunft war. Seitdem hat er eine Rückenmarksverletzung, die ihm bis auf den heutigen Tag zu schaffen macht. Ihre Eltern sind beide in Vietnam geboren. Der Vater kam 1988 als Vertragsarbeiter nach Ost-Berlin, seitdem arbeitet er in wechselnden Fabriken. Die Mutter floh auf abenteuerlichen Wegen über Moskau nach Berlin – und ist heute als Zimmermädchen angestellt.

Nach der Wende hat das Paar einige Jahre in der bayerischen Provinz gearbeitet, unter anderem in einer Chemiefabrik. Der Lohn war gut, aber die Mutter vermisste ihre vietnamesischen Freunde und das großstädtische Leben in Berlin. „Auf dem Dorf war einfach nichts los. Deshalb sind sie wieder zurückgegangen“, sagt Ha Thu. Sie hat noch eine ältere Schwester, die bis zu ihrem zwölften Lebensjahr in Vietnam gelebt hat und heute in der Logistikbranche arbeitet. „Sie hat die vietnamesischen Werte sehr verinnerlicht, das ist bei mir anders.“

In Deutschland werde man zum kritischen Denken erzogen. „Und ich liebe es, über alles zu diskutieren. Aber für meine Eltern ist das schwer zu ertragen“, sagt Ha Thu. „In der asiatischen Kultur ist es ja so, dass das Kind seinen Eltern alles verdankt und sich auch so zu verhalten hat, immer brav und gehorsam. Diese Vorstellung steht aber im Widerspruch zu dem, was ich in der Schule täglich trainiere.“ Ihre Mutter habe das inzwischen halbwegs akzeptiert. „Sie weiß, dass dieses Über-alles-Diskutieren ein Teil von mir ist.“

Erziehung zum Gehorsam oder kritischen Denken?

So ganz, sagt Ha Thu, verstehe die Mutter nicht, was die Tochter so treibt bei diesen Start-Workshops. Aber sie sieht, dass sie gut gelaunt zurückkehrt, und das reicht ihr. Ha Thu weiß schon, dass sie Jura studieren und später mal als Anwältin arbeiten will, um Menschen aus der vietnamesischen Community vertreten zu können, die unschuldig in Not geraten. „So wie das auch meinen Eltern mal passiert ist. Es lag da eine Dokumentenfälschung vor, von der mein Vater gar nichts wusste. Beinahe wäre er abgeschoben worden, aber zum Glück gab es eine Anwältin mit vietnamesischen Wurzeln, die ihnen geholfen hat.“

Die hat der Vater später noch mal angesprochen, als er und ein paar andere Fabrikarbeiter um ihr Urlaubsgeld gebracht werden sollten. Die deutschen Arbeiter bekamen es ausgezahlt, die vietnamesischen nicht, da regte sich auch beim Vater das kritische Denken.

Auf besonderen Wunsch noch ein Bild mit Brille: Ha Thu Nguyen möchte Anwältin werden und vielleicht einmal Menschen aus ihrer Community helfen, die unschuldig in Not geraten sind.
Auf besonderen Wunsch noch ein Bild mit Brille: Ha Thu Nguyen möchte Anwältin werden und vielleicht einmal Menschen aus ihrer Community helfen, die unschuldig in Not geraten sind.Benjamin Pritzkuleit

Und wofür möchte Ha Thu sich engagieren? Zum Beispiel für den Kampf gegen den täglichen Rassismus. Sie hat nicht so „krasse Erfahrungen“ wie ihre Eltern gemacht, aber doch gibt es Situationen, die sie kränken. „Wenn man schon Rassist ist, dann unterscheidet man ja nicht gern. Alle Menschen, die asiatisch aussehen, sind dann natürlich Chinesen. Egal, ob sie aus Japan, Korea oder aus Vietnam kommen. Neulich hat im Bus ein Mann mit dem Finger auf mich gezeigt und zu seinen Freundinnen gesagt: ‚Guck mal, die Chinesin da drüben! Wegen der haben wir jetzt hier in Deutschland Corona.‘ Dann haben sie gelacht, meine Freunde haben mich nicht verteidigt. Und als ich mich aufgeregt habe, haben sie gesagt: Das ist doch nicht so gemeint, das musst du einfach ignorieren!“ Sie aber könne und wolle es nicht ignorieren. „Ich will, dass meine Eltern, meine Schwester, meine Nichten und meine Kinder in der Zukunft nicht ständig rassistisch beleidigt werden! Denn wie soll ich es bitteschön hinkriegen, dass meine Kinder biodeutsch aussehen? Das geht nun mal nicht!“

Der tägliche Rassismus in der Schule

Oder neulich in der Englischstunde. Weil die Lehrerin den Gruß von Ha Thu überhört hatte, hielt sie ihr vor der Klasse einen langen Vortrag, wie man sich in Deutschland zu verhalten hat: „In Deutschland grüßt man sich, in Deutschland sagt man Bitte und Danke, in Deutschland …“ Nach der Stunde kamen einige Mitschüler zu Ha Thu und sagten: „Hey, wenn das kein Rassismus war!“ Der Vertrauenslehrer sagte, dass die Kollegin das sicher nicht so gemeint hätte. Und als die Kollegin aus seinem Mund von der Beschwerde hörte, behauptete sie, Ha Thu wolle ihre Reputation zerstören.

„Und genau deshalb finde ich es wichtig, dass es unabhängige Beschwerdestellen gibt in Berlin! Damit man nicht zu den Lehrern gehen muss, die als Kollegen natürlich befangen sind“, sagt Ha Thu. Und außerdem findet sie, dass besonders die Lehrkräfte für das Thema sensibilisiert werden müssen. Sie engagiert sich im Verein „Empathie macht Schule“, der Fortbildungen für Lehrkräfte organisiert. „Das klingt so banal: Natürlich soll man in der Schule empathisch sein! Aber in der Praxis ist es eben doch schwieriger als man denkt – und muss geübt werden.“ Auch im Landesschülerausschuss versuchen sie, das Thema voranzubringen. In der frühen Phase der Corona-Zeit war sie sogar für kurze Zeit Berlins Landesschülersprecherin. Sie ist stolz darauf, dass es ihr damals gelungen ist, der Berliner Öffentlichkeit klarer zu machen, wie sehr die Jugendlichen unter Corona leiden.

Der Lockdown fühlte sich an wie Kaffee-Entzug

„Eine schreckliche Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass die Tage so ineinander rutschen und zu einem einzigen Brei verschwimmen. Dass man morgens nur noch aufsteht, um Arbeitsblätter auszufüllen und sich dann wieder ins Bett legt.“ Sie hat den Verdacht, dass sie auch unter Long-Covid gelitten hat, denn über Monate war sie einfach sehr müde, konnte nur sechs Stunden am Tag konzentriert sein, hat bestimmte Fächer geschwänzt, um es irgendwie zu schaffen – aber am Ende zum Glück trotzdem die Prüfungen bestanden. „Es fühlte sich an wie Kaffee-Entzug.“

Für manche sei der zweite Lockdown kein Problem gewesen, andere seien wie sie vier Monate in einem Loch verschwunden. Das müssten die Berufspolitiker dringend im Hinterkopf behalten, sagt Ha Thu.

Einer dieser Berufspolitiker ist seit wenigen Monaten Kassem Taher Saleh, der für die Grünen in den Bundestag eingezogen ist. Saleh, 28 Jahre alt und im Irak geboren, ist Start-Stipendiat gewesen. „Die Stiftung hatte einen extrem großen Einfluss auf meinen politischen Weg“, sagt er. „Ohne sie wäre ich vielleicht nicht auf die Idee gekommen, für den Bundestag zu kandidieren.“

Kassem Taher Saleh, erster Start-Stipendiat im Bundestag.
Kassem Taher Saleh, erster Start-Stipendiat im Bundestag.Juliane Mostertz

Kassem Taher Saleh und auch Ha Thu Nguyen mit ihren 16 Jahren gehören zu den Frühvollendeten des politischen Engagements. Erstaunlich, wie rhetorisch gewandt sie sind und wie professionell in der Art, sich und ihre idealistischen Anliegen zu präsentieren. Wie effizient sie auch private Erfahrungen in die politischen Prozesse einspeisen.

Dasselbe Gefühl hatte ich, als ich am Rande eines Klimastreiks vor dem Reichstag mit den jungen Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung sprach. Und damit will ich überhaupt nicht sagen, wie manche Kritiker behaupten, dass diese Generation letztlich doch oberflächlich ist. Nein, aber sie weiß, dass sie die Oberflächen beherrschen muss, sozusagen mit allen Social-Media-Wassern gewaschen sein muss, um in der Tiefe zu wirken.

Staunend sehe ich, wie lässig Ha Thu unserem Fotografen zum blassblau gekachelten Treppenaufgang an der S-Bahn folgt. Angstfrei steht sie da, die Hand in der Hosentasche, und der Luftzug bewegt ihr schwarzes Haar.


Bis 6. März können sich wieder engagierte Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte bundesweit für die begehrten 3-Jahres-Stipendien bewerben. Mehr Informationen zur Bewerbung finden sich hier: www.start-stiftung.de